Archiv der Kategorie: DDR

Aufarbeitung der SED-Diktatur, DDR im Unterricht, Ostalgie

In Brandenburg jetzt doch Gemeinschaftsschulen

Anfänglich wollte die SPD von der Idee des Koalitionspartners Die Linke. nichts wissen: Keine Gemeinschaftsschulen hieß es zuerst. Jetzt ist auch die SPD für das linke Schulkonzept. Das sieht in seiner vollendeten Form vor: Eine Schule für die Klassen 1-10, kein Sitzenbleiben, keine Ziffernnoten, keine äußere Differenzierung.

Von besonderen Eliteschulen („Spezialschulen“ für Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften und Sport), auf die in der DDR leistungsstarke Schüler geschickt wurden, ist dabei nicht die Rede.

Dass die SPD in Brandenburg umgefallen ist, liegt vielleicht daran, dass in dünn besiedelten Gebieten außerhalb des Berliner Umlandes ein vielfältiges, mehrgliedriges Schulsystem schlecht zu organisieren ist. Wahrscheinlich läuft es auf das hinaus, was Hessen seit 40 Jahren praktiziert: Unter dem Titel „(Kooperative) Gesamtschule“ existieren die Schulformen Hauptschule, Realschule, Gymnasium mehr oder weniger weiter. Der gymnasiale Anteil beträgt 40 bis 70%, die Hauptschule befindet sich im einstelligen Bereich. Von Gemeinschaftsschulen hört man aber, dass der Anteil der Gymnasialschüler zum einstelligen Bereich tendiert.

In Baden-Württemberg schnitt eine Vorzeige-Gemeinschaftsschule in einer wissenschaftlichen Evaluation katastrophal ab. Die Daten blieben unter Verschluss.

Die Privatschulen in Brandenburg werden sich freuen. Vorsorglich hat die rot-rote Landesregierung schon die staatlichen Zuschüsse für sie gekürzt.

Das Ärgerlichste bei allen Schulreformen, besonders den Strukturänderungen, ist m. E., dass die Lehrer nicht „mitgenommen“ werden. Oder hat man je davon gehört, dass Lehrer in Binnendifferenzierung geschult wurden, gelernt hätten, ohne Ziffernnoten auszukommen, gelernt hätten, individuelle Förderpläne zu schreiben usw.?

Jeder Autowerkstattmitarbeiter wird besser darin geschult, wie er mit einem neuen Motor, einem veränderten Getriebe oder einem Katalysator umzugehen hat. Die Kultusministerien haben sich selten darüber den Kopf zerbrochen, wie man Lehrern eine Reform beibringt; außer mit mehr Konferenzen,  mehr Formularen, mehr Vergleichsarbeiten. Es ist ja nicht alles schlecht an einer Gemeinschaftsschule, aber man kann sie nicht verordnen.

Im Nachwende-Volksmund hat die DDR-Einheitsschule, das Vorbild für die Gemeinschaftsschule, einen guten Ruf. Es gibt aber auch diese Meinung: Das beste am DDR-Schulsystem waren die Spezialschulen. Deren Schüler haben die zum Abitur führende EOS locker geschafft und hatten auch einen erheblichen Anteil an Spitzenpositionen in Wissenschaft und Technik. Warum sagt wohl Lothar de Maizière, letzter und demokratisch gewählter DDR-Ministerpräsident, 1990 in seiner Regierungserklärung: „Ein kastastrophales Erbe übernehmen wir von der SED-Herrschaft auch im Bildungswesen“.

Der (westdeutsche) Streit um zwei oder drei Jahre gymnasiale Oberstufe – „Die im Osten schaffen es in zwei Jahren“ – geht von falschen Prämissen aus. Die Vorstellung eines gestuften Schulsystems trägt nicht. Man kann nicht einfach auf die Sekundarstufe I die Sekundarstufe II draufsetzen. Die Vorbereitung auf das Abitur beginnt viel früher. (Für manche Eltern schon im ersten Schuljahr.)
Was wenig bekannt ist: Schüler der vorgeblichen Einheitsschule wurden bis 1984 schon nach Klasse 8 im Hinblick auf die EOS gestreamt, d. h. getrennt unterrichtet, und sogar der EOS zugeordnet, der Schule mit der besseren Ausstattung und besonders guten Lehrern.

Um die Abwägung, wie lange gemeinsames Lernen gesellschaftspolitisch nötig sei und ab wann differenzierte Bildungsgänge besser seien, bleibt auch uns nicht erspart.

Die derzeitige Entwicklung, bei der zwei Drittel der Schüler das Abitur anstreben und dieses durch Wegfall von Prüfungsteilen und durch Kompetenz- statt Wissensorientierung einfacher wird, ist nicht das Ei des Kolumbus.

Beim Schreiben dieses Postings habe ich meinen Text „Vom Guten der DDR-Schule“ wiedergelesen. Wer ihn lesen will.

Wie sich Schulzeitverkürzung auf die Persönlichkeitsstruktur von Schülern auswirkt

Empirische Sozialforschung vom Feinsten, findet Michael Klein in seinem Blog Science Files:

Nach der Reform – Abitur nach 12 statt 13 Jahren – sind, so die Studie,

  • männliche Schüler umgänglicher als weibliche
  • ostdeutsche Schüler weniger umgänglich als westdeutsche und zudem neurotizistischer
  • Schüler aus einer nicht-intakten Familie (was auch immer das sein mag) offener und extrovertierter als Schüler aus einer intakten Familie
  • Schüler mit Migrationshintergrund gewissenhafter als Schüler ohne Migrationshintergrund.
  • Eine arbeitende Mutter wirkt sich negativ auf die Offenheit von Schülern aus.

Zitat aus Science Files zum Inhalt der Studie: „Persönlichkeit formiert sich auf der Grundlage von Erfahrung (… dass Persönlichkeit einen genetischen Anteil hat, … stört nur beim Datenauswerten, weil man es kaum messen kann, deshalb lassen wir das einfach beiseite) und schuupp-die-wupp haben wir die Hypothese, dass Schule sich auf Persönlichkeit auswirkt und dass dann, wenn man an der Variable “Schule” etwas ändert, man deterministisch wie die Beziehung nun einmal ist, auch etwas an der Variable “Persönlichkeit” ändert.

Geändert wurde die Zeit, die bis zum Abitur zur Verfügung steht. Und daraus konstruieren die Autoren die Vermutung, dass sich dieses eine Jahr und vor allem der hohe “workload” auf die Persönlichkeit der betroffenen Schüler auswirkt. Warum? Wegen des höheren workload! Warum? Niemand weiß es.“

Update 5.6.14:

Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin kommt zu einem ähnlich vernichtenden Ergebnis. Er hat drei Jahre Referate und Klausuren von G8- und G9-Studenten verglichen und schreibt in der FAZ von heute darüber. „Es fehlt an Urteilskraft“, FAZ, 5.6.14, p7:

  • Die G8-Studierenden sind kaum zu Abstraktionen fähig
  • Verallgemeinerungen und Transfers gelingen nicht
  • Textanalysen sind sehr vage
  • Problembewusstsein und Sinn für die Komplexität lebensweltlicher Entscheidungen fehlen völlig
  • Die Beziehungen von Freiheit und Bindung, Gesellschaft und Individuum, Gleichheit und Angemessenheit werden nicht konflikthaft, sondern als parallel zu bearbeitende Aufgaben verstanden
  • Aufgrund der kognitiven Entwicklung scheinen(!) die Studierenden nicht in der Lage zu sein, komplexe, antinomische und multikausale Prozesse, wie sie heute in allen Wissenschaften üblicherweise formuliert werden, angemessen aufzunehmen.

Wow! Was ein paar Monate weniger Unterricht ausmachen!

Zugegeben, in der psychosozialen Entwicklung Heranwachsender gibt es Sprünge und Schübe. Nach einer Woche Ski-Freizeit (Wie das Unternehmen missverständlich genannt wurde) waren fast immer – positive – Veränderungen festzustellen, u. a. mehr Selbstsicherheit, mehr Anstrengungsbereitschaft…

Das meiste von dem, was Prof. Ladenthin in seiner Studie beklagt, war schon zu G9-Zeiten im Unterricht festzustellen: Verallgemeinerungen und Transfers gelingen nicht, Textanalysen sind vage, Abstraktion fällt schwer. Zu fragen wäre auch, ob G8-Schüler mehr kompetenzorientiert unterrichtet wurden und ihre Leistungen in standardisierten Tests abgefragt wurden. Es gibt Befunde, dass man dann eher lerne, Lösungen in den vorgegebenen Texten zu finden, anstatt auf eigenes Wissen zurückzugreifen und selbst nachdenken zu müssen.

Studien, die ich mir von unseren Erziehungswissenschaftler/-innen wünsche:
  • Welche Schwierigkeiten haben Erwachsene mit komplexen Aussagen?
  • 60 Jahre G8 in Ostdeutschland: Fiel das nie auf, dass die dortigen Abiturienten scheinbar schlechter denken können und wissenschaftlichen Anforderungen nicht gewachsen sind?
Zur Qualitätsverbesserung wissenschaftlicher Studien ist auch dieser Artikel in Science Files hilfreich.

 

Der Osten überholt den Westen

Wenn Erich Honecker das noch erlebt hätte! (Wenigstens seiner Frau, der Volksbildungsministerin, ist es vergönnt.)

Der Ländervergleichstest 2012 in Mathematik und Naturwissenschaften besagt, dass alle ostdeutschen Bundesländer zur Spitzengruppe gehören. Nur Bayern könne noch mithalten.

Wie kommt´s? Weiterlesen

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 als Thema in der Schulbibliothek?

Die moderne Schulbibliothek wird gerne als Brückenkopf der Vermittlung von Informationskompetenz in der Schule gesehen. Voilà, hier ein Vorschlag:

Die Forschung zum 17. Juni 1953 hat seit den 90er Jahren erheblich zugenommen und neue Erkenntnisse gebracht. Das Narrativ der westdeutschen Geschichtsbüchern geht aber so: Eine im Grunde klassenbewusste Arbeiterschaft hätte auf der Baustelle Stalinallee ihre Interessen an sozialpolitischen Verbesserungen artikuliert. Niemand hätte die Absicht gehabt, die Wiedervereinigung und das Ende der DDR zu fordern.

Das neue Heft von „Horch und Guck“ (1/2013) räumt damit auf. In mehr als hundert Schulbibliotheken der Sekundarstufen müsste es dank Gratisabonnement vorhanden sein.

Wie wäre es mit einem Büchertisch zum Thema „DDR“, mit einer Litfaßsäule oder einer Wandzeitung? Oder wenigstens dem Hinweis für die Geschichtslehrer/-innen, dass sie ihre Informationskompetenz optimieren können?

Siehe auch im Blog „Ampelmännchen und Todesschüsse“!
Die Bundeszentrale für politsche Bildung hat das Buch von Sascha-Ilko Kowalczuk über den 17. Juni angekauft!

Wie man Schülerleistungen auch steigern könnte

Wenn Schule 30 Minuten später anfinge als in aller Herrgottsfrühe, würde das schon die Schulleistungen merklich steigern können, sagen Arbeitsmediziner. Auch Verkehrsplaner empfehlen, den morgendlichen Berufsverkehr vom Schülerverkehr zu entlasten, in dem der später stattfinden soll. Die Überlegungen sind nicht neu. Die Aussage begegnet mir nur gerade wieder einmal. Das Gegenargument war früher, dass die berufstätigen Eltern aus dem Haus seien und die Kinder dann noch eine Stunde alleine und unbeaufsichtigt herumtrödeln würden.

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Bücher für Weihnachten

Allerorten gibt es Büchertipps. Da stehe ich nicht nach. Aus meinem DDR-Webquest-Blog „Ampelmännchen und Todesschüsse“ stammen diese Leseempfehlungen:

“Weggesperrt” von Grit Poppe
Erwin Jöris: Deine Schnauze wird dir in Sibirien zufrieren
Lars Oermann: Aequilibrium
“Plan D” von Simon Urban: Die DDR ist wieder da!
Michail Bulgakow, Der Meister und Margarita
Reiner Kunze: Wunderbare Jahre
Manfred Krug, Abgehauen
Ruta Sepetys, Und in mir ist der unbesiegbare Sommer
Warlam Schalamov: Künstler der Schaufel. Erzählungen aus Kolyma 3
Black Box DDR
Klaus Kordon, Krokodil im Nacken
Elisabeth Herrmann, Zeugin der Toten
Ruth Hoffmann, Stasi-Kinder. Aufwachsen im Überwachungsstaat
Elena Gorokhova, Goodbye Leningrad
“Drüben” von Simon Schwartz
Rayk Wieland, Ich schlage vor, dass wir uns küssen

Kurztrip zur Frankfurter Buchmesse 2012

Warum ich nach einer Pause doch wieder einmal von Potsdam zur Frankfurter Buchmesse fuhr, lag wohl in der Hauptsache daran, dass ich testen wollte, ob ich die lange Strecke auch mit meinem neuen Kleinwagen bewältigen kann.

Nicht nur das geht in Ordnung. auch der Besuch der Messe hat nicht geschadet. Die Verleihung des Jugendliteraturpreises ist immer wieder schön anzuschauen. Man lernt die Staatssekretäre des Bundesfamilienministeriums kennen. (Es kann nicht immer die Ministerin teilnehmen.) Der diesjährige hielt eine Rede, in der man ihm die wesentlichen Aspekte des Kinder- und Jugendbuchmarktes angesprochen wurden. So hätte sich Herr Boos von der Buchmesse-AG eigentlich wieder auf die von seinen Fans hoffnungsvoll erwartete neue Lieferung eines Leseerlebnisses aus Kindheit und Jugend konzentrieren können. Diese Hoffnung enttäuschte er zwar, dafür plädierte er leidenschaftlich für mehr Engagement von Vätern in der Leseförderung. Angesichts des überwiegendst weiblichen Publikums ein dringlicher Appell. Die Chefin der Kritikerjury, Dr. Susanne H. Becker, erwies dem in München ansässigen Arbeitskreis für Jugendliteraur ihre Reverenz dadurch, dass sie ein elegantes Dirndl trug.

Es gab Jahre, da war das Auditorium sehr begrenzt und die Einlasskarten Bückware. Dann folgte der überfällige Wechsel in den großen Saal Harmonie. Inzwischen werden zusätzlich zu den 1000 Sitzplätzen Stehplatzkarten vergeben. Man redet von der größten Veranstaltung der Buchmesse und Herr Boos betonte die Bedeutung der KJL für diese. Warum baut man dann das Auditorium nicht so um (was m. E. technisch möglich ist), dass die Stehplatzinhaberinnen und Treppensitzerinnen ordentliche Sitze bekommen?

Für die Auswahl gilt meine Bemerkung von 2009 und 2010 (s. u.): KJL zum Fall der Mauer, zur „Wende“ oder zur SED-Diktatur sind chancenlos. Zweiter Weltkrieg und Holocaust sind dagegen eine sichere Bank. (Um Missverständnissen vorzubeugen, liebe taz, liebe Antifa: Es geht mir weder um Leugnung noch um Relativierung.) Wenn ich nicht wüsste, dass sich Jugendliche dafür interessieren, dass es – vor allem im Osten – in den Schulen zu kurz kommt, dass – ebenfalls dort und keineswegs nur vereinzelt – eine DDR erinnert wird, die es so nie gab, und dass es nicht zuletzt diese Literatur gibt, würde ich nichts sagen. Zuletzt gab es 2003 von der Jugendbuchjury(!) einen Preis für „Krokodil im Nacken“ von Klaus Kordon.

Nun ist der Preis nicht unabhängig von den Interessen des Marktes. Es scheint also für Verlage uninteressant zu sein, von der DDR zu erzählen.

Dann erzählt mir ein ehemaliger Verlagsleiter, dass er schon in den 90ern eine Autorin ermuntert hatte, darüber ein Kinderbuch zu schreiben. („Ich kenne es!“ konnte ich rufen.) Leider habe man im Verlag ein langweiliges Cover und einen ebensolchen Titel gewählt.

Siehe Deutscher Jugendliteraturpreis im Basedow1764: 2009 und 2010.
Meine (sehr) unvollständige Liste von Jugendbüchern zur DDR

Schulbibliotheken in der DDR? Nachtrag

Im Juni hatte ich geschrieben:

„Der Bibliothekswissenschaftler Karsten Schuldt hat bibliotheksfachliche Literatur der DDR ausgewertet, findet aber … keine überzeugende Antwort. Er muss es bei Vermutungen belassen: „Offenbar“ habe es sie gegeben. Man könne daraus, dass so wenig über sie geredet und geschrieben wurde, nicht schließen, dass es sie nicht gegeben habe. Die Existenz eines Werkes wie Sallmon, Heinz: “Aufgaben der Schülerbücherei an den zehnklassigen Oberschulen” lege nahe, dass es sie gegeben haben muss. Vielleicht ging es Sallmon so wie mir: Er beschreibt Wünschenswertes.“ (Beitrag v. 20.6.12)

Jetzt macht mich Hans Günther Brée auf eine Stelle im „Turm“ von Uwe Tellkamp aufmerksam (Frankfurt am Main 2008, S. 112), in der beschrieben wird, wie eine Schulbibliothek in den 80er Jahren auch benutzt wurde:

 „[…] sie hatte sich die Haare gefönt in der Schulbibliothek, in der die Hälfte der Jungen während des Arbeitslagers untergebracht gewesen war […]“

Ein weiterer Nachtrag: In seiner sehr gründlichen Studie „Buch und Lesen in der DDR“ widmet Dietrich Löffler 3 der über 400 Seiten der schulischen Leseförderung. Schulbibliotheken kommen dort, wie im ganzen Buch nicht vor.

Es ist aber sehr lesenswert. Vom Mythos „Leseland“ bleibt bei Löffler nicht viel übrig, z. B.:

  • Während der gesamten Existenz dieses Staates gab es gerade einmal zwei Bibliotheksneubauten. Die Mehrzahl der öBen waren in wenig geeigneten Gebäuden untergebracht und hatten einen veralteten Bestand.
  • Die hohe Nachfrage nach Büchern erklärt sich u. a. so: Da den Buchhandlungen, außer Volksbuchhandlungen und NVA-Buchvertrieb, nie die bestellten Mengen, sondern nur ein kleiner Teil davon geliefert wurde, gaben die weit überhöhte Bestellungen auf.
  • Ein Vergleich des Leseverhaltens in Österreich und in der DDR zeigt wenig Unterschiede.
    Das Buch von Löffler gibt es in einer Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Kerncurriculum Geschichte: Narrative statt Wissen?

Spötter in den Reihen der Lehrerschaft sagen seit Alters her: „Egal, welcher Lehrplan gerade aktuell ist, was in meinem Unterricht passiert, entscheide ich.“ Wenn ich noch im Dienst wäre, würde ich gerade den achten Geschichtslehrplan über mich ergehen lassen müssen. Alle fünf Jahre ein neuer. Manchmal kam der neue, obwohl der alte noch in der Erprobungsphase war. Der seit 2011 gültige heißt „Hessisches Kerncurriculum Geschichte“. Und die Kultusbürokratie meint es diesmal ernst. Soll doch der Unterricht zu kompetenzorientierten Prüfungen passen.

Der hessische Bildungsserver ist angefüllt mit Hinweisen auf Kompetenzorientierungslehrgänge und Kontaktadressen zu Kompetenzorientierungsberater/-innen, die Schulen aufsuchen sollen. Die Schulen müssen auf der Basis der Kerncurricula schuleigene Curricula erarbeiten.

Ich versuche schon seit Jahren zu verstehen, was eigentlich mit Bildungsstandards und Kompetenzen gemeint ist. Was mich beruhigt: Es geht vielen so. Was mich beunruhigt: Obwohl es ein unklarer Begriff ist, ist die Kompetenzorientierung zur Vorschrift geworden.

Meine Suche auf dem hessischen Bildungsserver führt zu gleich drei Kerncurricula Geschichte für die Mittelstufe. Das alte System hat also überlebt, jede Schulform kriegt ihr Kerncurriculum. Was ist aber mit den Mittelstufen- und den integrierten Gesamtschulen?

Die Rahmenrichtlinien von 1972 waren weiter gewesen, sie unterschieden Fundamentum und Additum und ersparten sich getrennte Lehrpläne für Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Wo kämen wir hin, wenn es nur ein „core curriculum“ für das Schulwesen gäbe? Amerikanische Zustände!

34 Seiten, auf denen das Wort Kompetenz in zusammengesetzten Variationen ca. 140mal vorkommt (im Kerncurriculum Realschule; das Inhaltsverzeichnis wurde nicht mitgezählt): Urteils-, Orientierungs-, Analyse-, Meta-, Wahrnehmungs-, Handlungs-,  narrative, überfachliche, personale, Sprach-, Lern-, Sozialkompetenz.  Dazu Wörter wie Komptenzerwartung, -entwicklung, -bereich, -erwerb.

Dann sind noch Basisnarrative wichtig und es gibt den Epochenbezug. Die konkreten Inhalte sind also noch nicht ganz verschwunden. Aber sie sind volatiler geworden, sie werden verbindlichen Kompetenzen zugeordnet, z. B. der Urteilskompetenz: „Weitgehend selbstständig Eckpunkte von Entwicklungen kennzeichnen durch Ursprünge, Wendepunkte und Schlusspunkte“. Dieser Kompetenz kann dann z. B. die Antike als Epoche zugeordnet werden: Freiheit und Mitbestimmung in der griechischen Polis/Entwicklung zum Imperium Romanum/Griechische und römische Ursprünge der europäischen Kultur. „Inhalte dienen nur noch als Spielmaterial zur Einübung in die Methode.“ (Andreas Gruschka)

Boden unter die Füße bekomme ich, wenn ich, einmal unter Bildungsstandard, dann unter Kompetenzerwartung diese Lernziele (Den Begriff gibt es nicht mehr) finde:

  • „anhand formaler Merkmale verschiedene Textgattungen im Hinblick auf ihren Erkenntniswert unterscheiden“, (Die Teilkompetenzen hätte ich gerne mal gelesen!)
  • „ihre eigenen Einstellungen, Vorurteile, Haltungen, Deutungsmuster und Wertmaßstäbe in den Geschichtsunterricht einbringen und kritisch hinterfragen und bewerten“, (Es liegt kein Irrtum vor: Mittelstufe/Realschule!)
  • „selbstständig die für eine Problemlösung erforderlichen Informationen beschaffen. (Dies ist eine „lernzeitbezogene Kompetenzerwartung“.)

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Katastrophales Geschichtswissen: Je weniger ich weiß, desto besser finde ich die DDR

Prof. Klaus Schroeder legt nach. Seine Studie über das mangelhafte Schülerwissen über die DDR sorgte einst für Aufsehen. Damals schnitten die westdeutschen Schüler am besten, Berliner und Brandenburger Schüler am schlechtesten ab. In Brandenburg gab man sich Mühe die Studie zu zerpflücken: Man holte einen Hamburger Professor, der der Studie zwar in ihrem Ergebnis zustimmte, aber methodische Mängel gefunden haben wollte. Ein Potsdamer Geschichtsprofessor konterte, die ostdeutschen Schüler wüssten keineswegs nichts, sie wüssten anderes: Das Gute an der DDR, die Sozialpolitik, die Aufstiegschancen, die Frauenemanzipation usw., das Fortschrittliche an der DDR sei ihnen bekannt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht ironisch meinte.

Jetzt führt Schroeder den Nachweis, dass Schüler ganz generell in der Zeitgeschichte herumeiern, Hitler und Honecker, Diktatur und Demokratie nicht unterscheiden können. 7000 Neunt- und Zehntklässler wurden befragt.

post-edit 10.08.12:
Gefühlt wissen wir schon lange, dass es mit dem Geschichtswissen nicht weit her ist. Es liegt nicht zuletzt auch daran, wie Geschichte unterrichtet wird. In Hessen z. B. im 5. Schuljahr nicht, im 6. eine Stunde, im 8. keine Stunde, in 7. 9 und 10 zwei Stunden. Hauptschüler in fünf Jahren nur zwei Jahre, das dritte Jahr mit einer Stunde kann man getrost vergessen. In Brandenburg bleiben für Geschichtsunterricht über die DDR nach Stundentafel und Lehrplan gerade einmal ein paar Stunden im 10. Schuljahr. Erschwerend tritt hinzu, dass der Unterricht über die DDR „ausgewogen“ sein muss. In der öffentlichen Diskussion lässt sich das festmachen an der fehlenden Trennung zwischen der jeweils eigenen Biographie und der SED-Herrschaft. Dann wird jede Darstellung der Erscheinungsform einer Diktstur als Angriff auf die eigene Biographie erlebt. Und jene wird gleich mit verteidigt: Ein bisschen Rechtsstaat war sie doch auch, na ja, ein Schuss Willkür, aber das Verkehrsstrafrecht war o.k., wir hatten den besseren Sex und haben mehr gelacht. Ich resümiere das mit der Frage, sollen wir jetzt an der Tafel die Vor- und Nachteile einer Diktatur sammeln?
Weiterhin wird Geschichte von vielen Lehrern, Eltern und Schülern nicht als „Denkfach“ begriffen, sondern als „Paukfach“ gesehen. (Ein Vater: „Ich verstehe nicht, warum mein Kind eine Fünf in Geschi hat. Da muss man doch bloß ein paar Jahreszahlen auswendig lernen“.)
Als Geschichtslehrer und Geschichtslehrerausbilder habe ich auch darunter „gelitten“, dass sich als progressiv verstehende Religionslehrer politisch-historische Themen besetzten und im Jahr zuvor unterrichteten (inklusive Spielfilmen und Gedenkstättenbesuchen!). Auch Religions-Schulbücher lasen sich streckenweise wie historisch-politische Lehrbücher. Wenn ich dann im Jahr darauf mit meinen Arbeitsblättern kam, hieß es: „Nicht schon wieder!“ An einer Schule immerhin war mein Vorschlag erfolgreich, dass sich Religions- und Geschichtslehrer einmal zusammensetzten.

Ein neues Phänomen kommt hinzu: Der Einfluss von konstruktivistischer Lerntheorie, komptenzorientierter Curriculumplanung und „subjektorientierter Geschichtsdidaktik“. Wenn schon Elfjährige sich das Imperium Romanum aus Internetfundstellen konstruieren müssen, statt sich Orientierungswissen durch Schulbuchtexte und Lehrervortrag anzueignen, fehlt die Unterrichtszeit für die Ausbildung eines Gerüsts an Geschichtswissen. Letztlich gäbe es keinen objektiven Epochenüberblick. Wer an die Vermittlung von Geschichtswissen glaube, sei naiv. Jeder Schüler habe sein Vorwissen, seine Einstellungen, seine Vorurteile. Daraus konstruiere jeder sein Geschichtsnarrativ. Das mit den mitgebrachten Einstellungen ist ein ganz alter Hut. Aber daraus muss kein Verzicht auf Geschichtswissen resultieren.

Eine noch nicht einmal unintelligente Schülerantwort aus einem Politiktest ist mir in Erinnerung: Was ist Gewaltenteilung? Antwort: Die Mauer in Berlin.

Man soll Umfragen nicht überbewerten. Ein hervorragendes Faktenwissen hatten in meinen Klassen immer die Neonazis. Mir ist jemand, der Adenauer nicht einordnen kann, aber demokratisch denkt und handelt, lieber, als ein Stalinist, der jedes Hitler-Quiz gewinnen könnte. Gefährlich wird es, wenn sich demokratiefeindliche Einstellungen verfestigen würden. In einigen Landkreisen Sachsens, Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns sind Neonazis in der sog. gesellschaftlichen Mitte angekommen.

In Prof. Schroeders Studie zum DDR-Schülerwissen kam heraus, dass mit den Neonazis sympathisierende Jugendliche eine besonders positive Einstellung zur DDR hatten: Starker Staat, Militarismus, Zucht und Ordnung, das gefiel ihnen. Für Kinder der SED-Nomenklatura war die höchste Form der Abgrenzung vom Elternhaus die Sympathie mit den Nazis (Siehe etwa ein Mitglied der Zwickauer Terrorzelle).

post-edit 22.8.12:

Die Kernaussagen der Studie:

  • Viele Jugendliche können nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. Rund 40 Prozent sehen kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialismus, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Vereinigung.
  • Je besser das Wissen, desto häufiger werden Nationalsozialismus und DDR als Diktaturen eingestuft, alte und neue Bundesrepublik als Demokratien. 90% der Schüler mit hohem Kenntnisstand beurteilen DDR und NS-Staat negativ, aber nur 40% der Schüler mit einem niedrigen Kenntnisstand.
  • Den Nationalsozialismus beurteilen 16-18% der Jugendlichen mit türkisch-nahöstlichem Migrationshintergrund positiv, 8,4 % der Jugendlichen mit DDR-Eltern und 5 % derjenigen mit westdeutschen Eltern.
  • Bayerische Schüler liegen knapp vor Thüringen beim Wissensstand. Sie haben die höchste Ablehnungsquote von NS und DDR und die höchste Wertschätzung der Bundesrepublik. (In Bayern haben keine Gymnasiasten teilgenommen!)
  • Immerhin halten zwei Drittel „soziale Gerechtigkeit“ am besten in der neuen Bundesrepublik  verwirklicht. (Wussten die Probanden, was gemeint ist?) Auch wird für eine Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der DDR gestimmt.

Prof. Schroeder hält eine grundlegende Orientierung an Werten wie Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie für unverzichtbar.

Schüler aus Berlin und Brandenburg, die bei der Teilstudie über das DDR-Wissen schlecht abgeschnitten hatten, durften nicht mitmachen.

FU-Mitteilung zur Studie