Die „Netzgemeinde“ war in Aufruhr: Manfred Spitzer fasste 2012 seine medienkritischen Thesen in „Digitale Demenz“ noch einmal zusammen und behauptete, das Internet und die neuen Medien machten nicht geselliger, klüger und kreativer, eher träfe das Gegenteil zu.
Vor vier Jahren zitierte ich in einem Posting die vergleichsweise zurückhaltende Kritik des Medienexperten Martin Lindner, der ihm vorwarf, keine Ahnung zu haben. Sogleich machten sich auch Internet-Aktivist/-innen daran, Spitzer Fehler und Ungenauigkeiten nachzuweisen. (Ich erinnere mich, dass ich die Belege nicht allzu überzeugend fand. Leider habe ich sie nicht notiert, aber sie sind im Internet sicher zu finden.)
Für Prof. Spitzer ist das Gehirn ein lernender Organismus. Wenn es nicht gefordert wird, verkümmert sein Potential. Er belegt das am Beispiel des drohenden Verlusts des Orientierungssinnes durch den Gebrauch von Navigationssystemen. Spitzer beruft sich auf neurologische Untersuchungen bei Londoner Taxifahrern. Sie müssen die Karte Londons im Kopf haben. Der Ort des Orientierungssinnes im Hippocampus war bei ihnen deutlich größer als bei normalen Menschen.
Jetzt erscheint ein Artikel in der Fachzeitschrift nature, in dem der Experte für Navigationssysteme, Roger McKinlay, dieselben Befürchtungen äußert („Technology: Use or lose our navigation skills“, nature, Nr. 7596, 30.03.2016). McKinlay war Entwickler eines der ersten Navigationssysteme.
McKinlays Hauptthese ist allerdings eine andere. Er hält die GPS-gestützten Navigationssysteme für den Straßenverkehr für ungenau und störanfällig. Insbesondere, wenn sich Hunderte völlig von Navigationssystemen abhängige selbstfahrende Autos auf der Straße begegnen würden, brauche man verbesserte Systeme, u. a. ein ergänzendes terrestrisches Navigationssystem und Standards für die Kommunikation zwischen den Fahrzeugen.
Er nennt die heute schon immensen Kosten für die Satelliten-Navigationsinfrastruktur, Allein die USA haben für ihr GPS-System 10 Mrd Dollar ausgegeben und der Unterhalt koste eine Milliarde jährlich. Auch wenn der Ingenieur McKinlay das alles für machbar hält, erlaubt er sich die Bemerkung, dass es billiger wäre, die Fahrzeuge von Chauffeuren lenken zu lassen. Und den Schulen empfiehlt er, das Kartenlesen zu üben.
(via FAZ)
Siehe auch: „Musik und Gehirn“ und „Ist Medienkompetenz Blödsinn?“
Nachtrag: Im Wirtschaftsmagazin brandeins 11/2016, 145ff, „Das Ziel ist der Weg“, werden Forschungen aus aus den 70er Jahren, 2005 und 2013 erwähnt, in denen herausgefunden wurde, dass es Gehirnzellen im Hippocampus gebe, die durch geografische Einflüsse stimuliert würden. Es gebe neuronale Aktivitäten, die auf Rauminformationen reagierten und eine Karte des Raumes abspeicherten. Der Mensch besäße also eine Art Navigationssystem. Durch Benutzung digitaler Navigationssysteme verkümmere dies aber.
Gerne hätte ich in unseren Informationsmedien darüber mehr erfahren. Stattdessen gab es einmal mehr eine Talkshow, in der Sascha Lobo u. a. in bewährter Konstellation Spitzer zum Sarrazin machten.