Hat Finnland das DDR-Schulsystem übernommen?

Den Narrativen von der fortschrittlichen DDR ist manchmal schwer beizukommen. Sei es, dass die DDR der zehntstärkste Industriestaat der Welt gewesen sein soll, der beste “antifaschistisch-demokratische” deutsche Staat mit der höchsten sozialen Gerechtigkeit gegenüber Witwen, Behinderten und Rentnern. Man findet jenseits der Web 2.0-Kommentarkriege meist Belege für die Haltlosigkeit dieser Parolen. Wer das feststellt, beleidigt nicht 17 Millionen Deutsche, wie das von der Partei Die Linke. behauptet wird.

Es ist wie mit dem angeblich so hohen Eisengehalt beim Spinat, der auf einer falschen Kommastelle beruht: Die Weltbank hatte die DDR auf Grund eines Rechenfehlers ihrer Statistiker so wirtschaftsstark wie Italien gesehen. Die SED hatte kein Interesse, das von der Weltbank sogleich korrigierte Bild zu verbreiten. Es wird bis heute konserviert und auch mancher rbb-Moderator ist der Meinung, der Ruin der DDR sei von der Treuhandanstalt verursacht.

Auch die  Übernahme des DDR-Schulsytems durch Finnland ist so ein Mythos.

Es gibt kein Dokument, das die Wahrheit oder Unwahrheit eindeutig belegt oder es muss noch danach geforscht werden. Ich will versuchen, ein paar Überlegungen zusammenzustellen.

Aus der Tatsache, dass es Rundreisen von Finnen in der DDR gab, wird geschlossen, dass es so gewesen sein muss, wie die Legende besagt. Nun, ich habe an Gruppenreisen in die DDR teilgenommen, aber nichts übernommen. Ein Automatismus besteht da wohl nicht.

Finnland hatte auf Grund seiner politischen Neutralität diplomatische Beziehungen zur Bundesrepublik und zur DDR. Es bestanden vielfältige, auch kulturelle Kontakte.

In den 60er Jahren gab es in vielen Industriestaaten als Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen und ökonomische Sachzwänge Schulreformen. Gesamtschulen gab und gibt es in USA und in Westeuropa, auch in einigen westdeutschen Bundesländern. Wenn, dann war Finnland von den viel früher in Schweden begonnenen Reformen der Schule und Hochschule beeinflusst.

Margot Honecker, verantwortlich für die Volksbildung, erinnert sich daran, dass die Finnen die Wandzeitungen und das Melden zu Unterrichtsbeginn übernommen hätten. Sie bedauert, dass sie – wohl der Temperaturen wegen – den Fahnenappell nicht übernommen hätten.

Dass der Finnland-Mythos nicht stimmt, bestätigt Rainer Domisch, (west-)deutscher Erziehungsberater im finnischen Zentralamt für Unterrichtswesen. Domisch machte in einem Vortrag vor hessischen Schulleitern, bei dem ich anwesend war, auf den wesentlichen Unterschied aufmerksam: Die finnische Schule ist eine gemeinsame Schule für unterschiedliche Lerner, keine Einheitsschule. Das DDR-Schulsystem ist ein rigides Top-Down-Modell von Schule. Autonomie der einzelnen Schule oder des Lehrers kommen darin nicht vor. Das aber sind Merkmale der finnischen Schule.

Ärgerlich ist, dass der Mythos von der guten DDR-Schule sogar von Erziehungswissenschaftlern für bare Münze genommen wird. Prof. Dr. Olaf Köller, Direktor des Instituts für Qualitätsentwicklung, Berlin, wird in der Zeit mit dem Satz zitiert, die DDR-Schule hätte keinen zurückgelassen. Dies übersieht er: Als Lehrer gab man eher gute Noten, denn bei schlechten wurde man zum Schulleiter zitiert und musste sich rechtfertigen. Die parteiische EOS-Auswahl. Die Exklusion behinderter Schüler/-innen.

Der Spruch “Am deutschen Wesen soll die Welt genesen” gilt nicht zuletzt für DDR-Erziehungswissenschaftler und SED-Kader, die in deutscher Überheblichkeit ihr Schulsystem für das beste in der Welt hielten. Manche Westler (s. o.) sehen das heute noch so.

Hans-Joachim Maaz, Leiter einer psychosomatischen Klinik der Evangelischen Kirche in der DDR, kommt der Realität näher, wenn er schreibt, jedem, der sie durchlaufen hat, habe sie das Rückgrat gebrochen.

Was war mit den Jugendwerkhöfen und dem Arbeitserziehungslager Rüdersdorf, wo aus auffällig gewordenen jungen Menschen, sei es, dass sie die Schule geschwänzt hatten, Westmusik hörten oder mitten in der heftigsten Pubertät waren, lebenslange Hilfsarbeiter gemacht wurden?

Was Integration/Inklusion angeht, auch da hätte die DDR von Finnland lernen können. Das wurde in Ostdeutschland erst nach der “Wende” zum Thema.

Nachtrag 13.4.11: Beim Wiederlesen macht mich die Ignoranz von Prof. Dr. Köller erneut sprachlos. Die geistig Behinderten wurden gar nicht beschult.  Wer verhaltensauffällig war (Die Schwelle war sehr niedrig), kam in die Jugendwerkhöfe. Ich habe mit ostdeutschen Kollegen gesprochen, die es als äußerst angenehm empfinden, dass es seit der “Wende” Förderschulen gibt.

Dafür gab es Eliteschulen, ein echt sozialistischer Gedanke. (Siehe unten!)

Manche unselige Tradition besteht fort und trägt nachträglich zum Mythos von der großartigen DDR-Schule bei: Sachsen hat eine doppelt so hohe Sonderschulquote wie die westlichen Länder. Sonderschüler werden bei PISA nicht getestet. Brandenburg rühmt sich der höchsten Abiturientenquote Deutschlands bei Migranten. Das Land ist, abgesehen von russischen Juden und Vietnamesen, nahezu ausländerfrei. Es sind die Kinder dieser traditionell bildungsorientierten russischen Juden und  Vietnamesen, die dafür sorgen, nicht die Traditionen des DDR-Schulsystems.

Wer wegen des guten Abschneidens von Sachsen und Thüringen beim PISA-Ranking Frau Ministerin Honeckers „Vorarbeit“ lobend erwähnt, muss sich fragen lassen, warum dann nicht auch brandenburgische und mecklenburgische Schüler vergleichbar abschneiden.

Ergänzend noch ein Satz des thüringischen Kultusministers Müller: “Kein Experte der DDR auf internationalem Parkett war Schüler der POS, auch nicht Schüler der EOS (einer Art gymnasialer Oberstufe; Basedow1764). Das waren Schüler der Spezialgymnasien. Nicht zu vergessen, wie wenige Akademiker damals aus einem Jahrgang hervorgingen und wie viele es heute sind. Die Potenziale der Menschen wurden doch gar nicht herausgeholt.” (“Aufarbeitung kann nicht mit Zwang erfolgen”, in: Freies Wort, 25.08.08)

Update 17.10.10: Der Politikchef der Märkischen Allgemeinen Zeitung, Potsdam, Ralf Schuler, hat, beruhend auf seinen eigenen Erfahrungen, über den „Mythos Ostschule“ geschrieben. Er sieht die Schwächen der DDR-Schule, sieht aber im Vergleich zur heutigen Schulsituation Positives im methodisch-didaktischen Bereich. (Was meint er? Den Frontalunterricht?) Was Finnland angeht, sieht er, warum auch immer, die Gemeinschaftsschule nicht als skandi­navisch, sondern von der DDR geprägt, aber ansonsten keine Übernahme des Schul­systems.

Trotz nahezu flächendeckender frühkindlicher Betreuung und Privilegierung von Arbeiter- und Bauernkindern nahm deren Anteil an den Studenten in der DDR übrigens ab. Man stellte fest, dass an der Uni über kurz oder lang die Akademikerkinder wieder fast unter sich waren. Das konnte anscheinend nicht nur daran liegen, dass die Kinder von studierten Arbeitern und Bauern ja selbst keine Arbeiter und Bauern mehr waren, wenn sie die Hochschule besuchten. Die SED hat daher zum Ende ihrer Herrschaft nach genetischen Einflussfaktoren für Intelligenz gesucht. (Wovon sich Sarrazin hat inspirieren lassen!)

Am Rande bemerkt: Für Eltern in Helsinki und Umgebung gibt es seit Jahrzehnten nichts Erstrebenswerteres, als ihr Kind auf die Deutsche Schule zu schicken. Dort wird nach westdeutschen Gymnasiallehrplänen unterrichtet.

Weitere Nachträge:

25.6.11: Das neue Heft von “Horch und Guck” hat Schule als Schwerpunktthema! Darunter ist ein sehr lesenswerter Aufsatz von Ines Geipel über die Sportschulen.

14.7.11: Ich entdecke Freya Kliers Buch über die Schule in der DDR: Lüg Vaterland, 1990 erschienen. Man kann es nur empfehlen, auch allen Köllers und Finnland-Mythen pflegenden Ostalgikern in West und Ost.

Wenn die DDR nur von Finnland gelernt hätte!

Ein weiterer wesentlicher Lesetipp zur Schule in der DDR: Ulrike Mietzner, Enteignung der Subjekte – Lehrer und Schüler in der DDR

13.6.12: Dieses Posting wurde 1.300mal angeklickt. Hoffentlich trägt es dazu bei, die Fakten zurechtzurücken. (März 2016 3.000mal)

Auch Hessen hätte von Finnland lernen können. Als Hessen die Schulinspektionen einführte und die Vergleichsarbeiten vermehrte, erzählte ein hochrangiger finnischer Kultusbeamter auf einer Tagung in Wiesbaden, dass Vergleichsarbeiten der Abschluss einer Qualitätsoffensive seien und man die Schulinspektionen gerade zugunsten einer peer-to-peer-Evaluation abgeschaft habe. “Wir fangen aber so an”, beschied ihn der hessische Ministerpräsident Koch.

(peer-to-evaluation: Schulen evaluieren sich gegenseitig.)

16.8.2016:Man sollte bei diesem Thema die Ausgangssituation in der Nachkriegszeit nicht vergessen. Finnland verhielt sich außenpolitisch auf Grund des starken Einflusses des Nachbarn Sowjetunion neutral. In der Folge gab es z. B. für die Bundesrepublik und die DDR jeweils gleich berechtigte Handelsvertretungen und keine westdeutsche Botschaft.

Die starke Präsenz deutscher Sprache und Kultur in Finnland nutzte die DDR für vielfältige kuturpolitische Initiativen im Bereich Kunst, Musik, Theater. Der Versuch, der Bundesrepublik als wahrer Vertreter deutscher Kultur den Rang abzulaufen war aber nicht erfolgreich. Es gab zahlreiche Einladungen für Finnen in die DDR, für Schüler wurden Ferienfreizeiten angeboten.

Die reichere Bundesrepublik konnte an die Vorkriegszeit anknüpfen, sie eröffnete früh wieder die Deutsche Schule und eine deutschsprachige Bibliothek. Die Finnen bevorzugten Stipendien in Westdeutschland, sehr zum Ärger der DDR-Diplomaten. (Nach Olivia Griese, Auswärtige Kulturpolitik und Kalter Krieg. Die Konkurrenz von Bundesrepublik und DDR in Finnland 1945-1973, München 2003)

Der Text wurde am 26.3.16 bei Gelegenheit der Kopie des Beitrags in  meinen Weblog „Ampelmaennchen und Todesschuesse“ sprachlich an einigen wenigen Stellen überarbeitet.

 

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9 Gedanken zu „Hat Finnland das DDR-Schulsystem übernommen?

  1. Frank Friedrich

    herr markuu sourtamo, er ist in der finnischen schulbehörde (2004) bestätigte, daß sich finnland an die ddr orientiert habe, als es 1973 die „neuenjährige schule für alle“ einführte.

    Antwort
  2. Henning Wolffersdorff

    Habe gerade mit Kopfschütteln einige Äußerungen über das DDR-Schulsystem gelesen. Sehr oberflächlich und voreingenommen. Manchmal wie in der DDR, nur andersherum.

    Antwort
    1. Uwe-Jens

      Ja, es ist wie bei Fußball-Fans – da gibt es viele mit der rosaroten Vereinsbrille (ich kenne einen, der sagte, daß er alle Fans aller anderen Vereine haßt, weil sie nicht Fans „seines“ Vereins sind). Genauso ist es bei der historischen Betrachtung (z. B. der DDR) – da gibt es so manche Zeitgenossen, die diese mit der jeweiligen „Vereinsbrille“ vornehmen.
      Historische Betrachtung heißt eben leider nicht, alles gut oder schlecht (je nach Standpunkt) zu finden, auch wenn das sehr praktisch ist, weil es ein simples digitales Denken ist – man kann auch „Schubladendenken“ dazu sagen. Bei so manchem „Systemkritiker“ resp. so mancher „Systemkritikerin“ bekommt man immer wieder den Eindruck, daß das die bevorzugte Denkweise ist – erst recht dann, wenn relativ jungen Menschen, die links denken, vorgeworfen wird, sie seien für das unbestritten aufgetretene Unrecht in der DDR verantwortlich.

  3. Pingback: Schulbibliotheken in der DDR? | Basedow1764's Weblog

  4. Pingback: Freya Klier über das DDR-Schulwesen | Ampelmännchen und Todesschüsse

  5. Uwe-Jens

    Ich habe auch nicht behauptet, daß irgendetwas dadurch automatisch wahr ist. Nur haben Sie das Gegenteil behauptet, nämlich daß man auf diesen Reisen NICHTS hätte übernehmen können – weil Sie nichts übernommen haben.

    Antwort
  6. Basedow1764 Autor

    Danke, dass Sie mich auf eine sprachliche Unklarheit hinweisen. Ich korrigiere das.

    Die Frage, ob, was und wie viel eine finnische Reisegruppe mitgenommen hat, könnte sicher noch überzeugender geklärt werden, wenn sie denn jenseits der DDR-Mythendiskussion von Interesse wäre.
    Es genügt eigentlich schon der Vergleich: Auf der einen Seite ein straff von oben nach unten durchorganisiertes System, Festlegungen bis in den Unterrichtsverlauf der Einzelstunde hinein, mit Kontrolle, Überwachung, Indoktrination; auf der anderen Seite Verzicht auf Überwachung, Kontrolle, Vorschriften, Freiräume für Lehrer und Schüler, Vertrauen, Selbstorganisation, Weitergabe von Erfahrungen von unten nach oben.

    Da es ja Reisen im Kulturaustauschprogramm waren: Was hat die DDR-Delegation eigentlich aus Finnland mitgenommen?

    Freya Klier berichtet in „Lüg Vaterland. Erziehung in der DDR“, wie das Schulsytem von Ulbricht durchgesetzt wurde und was es war. Für Klier hat es nichts mit dem wahren Kommunismus zu tun. Aber es ist auch lehrreich, wenn man es ohne diese Folie liest.

    Antwort
  7. Uwe-Jens

    Ich glaube, daß niemand ernsthaft sagt, daß Finnland das DDR-Schulsystem übernommen hat. Allerdings gab es mehrfach Besuche von finnischen Lehrern in Schulen in der DDR (mein Vater betreute diese in meinem Heimatort). Es ist also durchaus sehr stark anzunehmen, daß nicht unwesentliche Aspekte (z. B. gemeinsames Lernen bis zur 8., 9. oder 10. Klasse) in die finnischen Überlegungen eingeflossen sind (sicherlich war die DDR da nicht die einzige Quelle für diese Aspekte, wie Sie auch feststellen).
    Sie schreiben „Mit der Übernahme der DDR-Schule durch Finnland ist das ähnlich. Aus der Tatsache, dass es Rundreisen von Finnen gab, wird geschlossen, dass es so gewesen sein muss. Ich habe auch an Gruppenreisen in die DDR teilgenommen, aber nichts übernommen.“ Eine solche Schlußfolgerung ist schon sehr merkwürdig – nur weil Sie nichts übernommen haben, haben es andere auch nicht? Das ist jetzt nicht Ihr Ernst …
    Weiterhin schreiben Sie „Brandenburg rühmt sich der höchsten Abiturientenquote Deutschlands bei Migranten. Das Land ist nahezu ausländerfrei. Es sind die Kinder russischer Juden und katholischer Vietnamesen, die dafür sorgen, nicht die Traditionen des DDR-Schulsystems.“ Es geht mir jetzt gar nicht um das DDR-Schulsystem, aber haben Sie mal die Abiturientenquote in Brandenburg nach Herausrechnen der von Ihnen genannten Kinder ermittelt? Erst mit diesen Zahlen können Sie Ihre Aussage untermauern, aber nicht durch solche plakativen Behauptungen. Wissenschaftlich ist das nicht, aber vielleicht ist das auch gar nicht Ihr Anspruch.

    Antwort
    1. Rolf

      Für mich ist das keine “ sprachliche Unklarheit “ sondern Absicht und Schönreden der BRD. Früher wurde in der DDR oft behauptet in der BRD ist alles schlecht und in der DDR alles gut. Heute ist es genau umgedreht. Es sind beides Lügen! Zumindest für mich.

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