Einen erschreckenden Befund trägt Birgitta vom Lehn vor: Der Stresspegel bei Kleinkindern in Tagesbetreuungseinrichtungen steige im Tagesverlauf kontinuierlich an, unabhängig, wie gut die Einrichtung sei. Nur bei kürzerer Verweildauer sei der Anstieg geringer. Bei Kleinkindern, die zu Hause bleiben können, sei der Stresspegel am Morgen am höchsten und sinke dann tagsüber.
Man kann seit ca. zehn Jahren bei Kleinkindern das Stresshormon Cortisol nachweisen.
Dazu passen Befunde aus Langzeitstudien, die besagen, dass Kinder aus Krippenbetreuung im Alter von vier Jahren stärker zu Streit, Lügen, Sachbeschädigung und Kämpfen neigen, desto länger sie in einer Krippenbetreuung waren. Dasselbe ergab sich bei 15jährigen, die auffällig bei Diebstahl, Vandalismus, Alkohol- und Drogengebrauch wurden.
Die amerikanische NICHD-Langzeitstudie über außerfamiliäre Kleinkindbetreuung.
Ein Gutachten des Bundesfamilienministeriums dagegen ist – wenig überraschend – sehr zurückhaltend in der Bewertung. Es betont die schlechte Übertragbarkeit auf Deutschland und stellt positive Effekte der Fremdbetreuung auf Sprach- und kognitive Entwicklung bei Kleinkindern aus bildungsfernen Familien heraus. Bekannt war mir bisher nur eine Bertelsmann-Studie, mit der die Stiftung auf den Ausbau von Krippenplätzen drängte, weil das die Chance von Kindern aus benachteiligten Familien, das Gymnasium zu besuchen, erhöhen würde. Diese Studie wiederum ist höchst umstritten, da der behauptete Kausalzusammenhang zwischen Krippen- und Gymnasiumsbesuch nicht belegt wurde.
In Deutschland fordern Gewerkschaftsbund und Arbeitgeber gemeinsam den Ausbau der Krippenunterbringung.
In Wikipedia wird darauf hingewiesen, dass die in Ostdeutschland übliche frühe und lange Krippenbetreuung keineswegs durchweg zu höheren Kompetenzniveaus geführt hätte und die Sozialkompetenz sogar schlechter als in Westdeutschland ausgefallen sei. Allerdings kann auch hier nur spekuliert werden, ob die nahezu flächendeckende Krippenerziehung damit zusammenhängt. Immerhin zeigt sich, dass diese allseits bewunderte, von der SED bewirkte Großtat nicht zu besseren Schülern oder verantwortungsvolleren Menschen geführt hat.
Siehe dazu PISA-E-Zusammenfassung, S. 29-33. (PISA 2000). Die Untersuchung bescheinigt ostdeutschen 15jährigen erheblich ungünstigere Werte bei sozialen Kompetenzen und der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme. (Items: DRK, freiw. Feuerwehr, Kirche, Jugendarbeit, Senioren, Knochenmarkspendenbereitschaft, pol. Teilnahme [Mitgliedschaft, Wahlbeteiligung], Engagement allgemein; Zahl der Einrichtungen d. Jugendarbeit)
Der Kinderpädiater Dr. Rainer Böhm gehört zu denen, die auf diese Studien aufmerksam machen. Er kann auch erzählen, wie schwer ihm das gemacht wird. Er resümiert in einem ganzseitigen Artikel in der FAZ v. 4.4.12, S. 7 (Gegenwart):
„Aber es führt kein Weg um die Einsicht herum, dass die Mehrheit ganztagsbetreuter Krippenkinder, selbst wenn sie in schönen Räumen mit anregendem Spielzeug von engagierten Erzieher/-innen betreut wird, den Tag in ängstlicher Anspannung verbringt, dass sich dies bei einem Teil der Kinder in anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten niederschlägt und dass mit dieser Form der Betreuung Risiken für die langfristige seelische und körperliche Entwicklung einhergehen.“
Update 29.4.12: Bemerkenswert, wie informationsresistent Politiker sind: Hannelore Kraft weiß, dass die teuren Kita-Plätze sich nach einem Jahr amortisieren, da die Frauen arbeiten gehen und Steuern zahlen. Sie fordert Kita-Pflicht für alle Kinder. Cem Özdemir will das mindestens diskutiert wissen.
Nachtrag zum Update: Frau Kraft hat bestritten, dass sie mit „alle Kinder sollen in die Kita“ eine Kita-Pflicht gemeint hätte.
Nachtrag: Zum Thema passt ein Leserbrief einer ehemaligen Kinderärztin in der DDR in der FAZ: „Warum muss Westdeutschland das (unglückliche!) Experiment Ostdeutschlands wiederholen? Als Kinderärztin und Mutter weiß ich nur zu gut, was für einen Stress für Mutter und Kind die frühe Unterbringung in Kinderkrippen bedeutet.“
Anm. GS: Die best ausgestatteten Krippen hatte das MfS für die Kinder seiner Mitarbeiter
Nachträge: Das US-amerikanische „Headstart“-Programm der Frühförderung benachteiligter Kinder wird von empirischen Bildungsforschern begleitet. Ihre Befunde widersprechen sich teilweise. Es ist sehr schwer herauszukriegen, was nützt und was nicht.
Ein Hinweis im Deutschlandradio auf: Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling (Hrsg.): Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit. Brandes & Apsel.
Eine fünfjährige psychoanalytische Behandlung deckt als Ursache psychischer und physischer Erkrankungen die DDR-Krippe auf: Ann Kathrin Scheerer. Einen Überblick über das Thema gibt Ann Kathrin Scheerer, Krippenbetreuung als ambivalentes Unternehmen.
Die Satire zum Betreuungsgeld: Ein Geheimpapier der OECD besagt: „Es kann nicht länger geduldet werden, dass Mütter ihre Kleinkinder selber erziehen. Mit dieser uralten, aber völlig veralteten Sitte muss Schluss gemacht werden.“
Update November 2012: Bei anderen sozial- oder bildungspolitischen Themen schaut man gerne nach Skandinavien. Warum hier nicht? Dort werden zwischen 300 (Finnland) und 400 € (Norwegen) Betreuungsgeld gezahlt.
Kita-Besuch ist in Finnland sehr gering. Die PISA-Schulleistungen aber sehr hoch. Gibt es da einen Zusammenhang?