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Internet = DDR? Jonathan Franzens neues Buch

Felicitas von Lovenberg interviewt Jonathan Franzen aus Anlass des Erscheinens der Übersetzung seines neuesten Buches „Unschuld“ (im Original: Purity) und Sandra Kegel bespricht das Buch in der FAZ von heute.

Franzen bringe darin die untergegangene DDR in Zusammenhang mit dem Internet: Die SED sperrte ihre Untertanen einst ein und spionierte sie aus. Das neue Medium habe einen totalitären Zugriff auf persönliche Daten.

Den Protagonisten Andreas Wolf(!) zitiert sie: Wie das Politbüro so sei auch das Internet Feind der Elite und Freund der Massen und gebe den Konsumenten, was sie haben wollen. Auch im Interview mit Frau von Lovenberg äußert sich Franzen über die neue Technik: Der SED-Dissident Wolf sei ein Narziss. Das müsse man sein, um als Dissident leben zu können. Der Narzissmus führe ihn geradewegs zum Internet, dem Projekt, das für Narzissten wie geschaffen sei.

Aber, so betont Sandra Kegel, sei das Buch kein trockener Thesenroman. Letztlich geht es nicht ums Internet, sondern um Menschen, die ihre Widersprüche, ihre Eigenheiten, ihre Geheimnisse haben.

Von Franzens „Korrekturen“ war ich enttäuscht, auf jeden Fall nicht so enthusiastisch wie die Kritik. „Unschuld“ werde ich wohl in die Hand nehmen.

Nachtrag: Julia Encke in der Sonntags-FAZ mag Franzen eigentlich auch nicht, findet die Gleichsetzung von Internet und DDR völlig verfehlt und aufgesetzt, hält Franzen aber für einen phantastischen Erzähler.

Der Osten überholt den Westen

Wenn Erich Honecker das noch erlebt hätte! (Wenigstens seiner Frau, der Volksbildungsministerin, ist es vergönnt.)

Der Ländervergleichstest 2012 in Mathematik und Naturwissenschaften besagt, dass alle ostdeutschen Bundesländer zur Spitzengruppe gehören. Nur Bayern könne noch mithalten.

Wie kommt´s? Weiterlesen

Wie man Schülerleistungen auch steigern könnte

Wenn Schule 30 Minuten später anfinge als in aller Herrgottsfrühe, würde das schon die Schulleistungen merklich steigern können, sagen Arbeitsmediziner. Auch Verkehrsplaner empfehlen, den morgendlichen Berufsverkehr vom Schülerverkehr zu entlasten, in dem der später stattfinden soll. Die Überlegungen sind nicht neu. Die Aussage begegnet mir nur gerade wieder einmal. Das Gegenargument war früher, dass die berufstätigen Eltern aus dem Haus seien und die Kinder dann noch eine Stunde alleine und unbeaufsichtigt herumtrödeln würden.

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Neues zur – nicht stattfindenden – Kita-Diskussion

Update März 2013: Ein Vorbericht zur neuen NUBBEK-Studie, die im April veröffentlicht werden soll, besagt, dass (weiterhin) die pädagogische Qualität in 90% der Kitas unterdurchschnittlich ist, nur 10% leisteten pädagogisch gute Arbeit. Tagesmütter seien keinesfalls schlechter als Kitas (Tagesmütter werden mit Betreuungsgeld finanziert, das von der Opposition wieder abgeschafft werden soll.) Die westdeutschen Kitas sind pädagogisch besser als die ostdeutschen. Die häusliche Betreuung sei überlegen. Allein der Wortschatz von Kitakindern sei etwas größer als der von zu Hause betreuten Kindern. (Darauf müsste man wahrscheinlich einen differenzierenden Blick werfen.)

Update August 2015: Überziehe ich, wenn ich mich an die DDR erinnert fühle?

  • Die NRW-Ministerpräsidentin fühlt sich missverstanden. Sie dementiert, dass sie eine Kita-Pflicht einführen will.
  • Die RPF-Bildungsministerin Vera Reiß (SPD) sagt den Satz: „Keine Mutter kann ihrem Kind das bieten, was eine Krippe bietet.“

Kurztrip zur Frankfurter Buchmesse 2012

Warum ich nach einer Pause doch wieder einmal von Potsdam zur Frankfurter Buchmesse fuhr, lag wohl in der Hauptsache daran, dass ich testen wollte, ob ich die lange Strecke auch mit meinem neuen Kleinwagen bewältigen kann.

Nicht nur das geht in Ordnung. auch der Besuch der Messe hat nicht geschadet. Die Verleihung des Jugendliteraturpreises ist immer wieder schön anzuschauen. Man lernt die Staatssekretäre des Bundesfamilienministeriums kennen. (Es kann nicht immer die Ministerin teilnehmen.) Der diesjährige hielt eine Rede, in der man ihm die wesentlichen Aspekte des Kinder- und Jugendbuchmarktes angesprochen wurden. So hätte sich Herr Boos von der Buchmesse-AG eigentlich wieder auf die von seinen Fans hoffnungsvoll erwartete neue Lieferung eines Leseerlebnisses aus Kindheit und Jugend konzentrieren können. Diese Hoffnung enttäuschte er zwar, dafür plädierte er leidenschaftlich für mehr Engagement von Vätern in der Leseförderung. Angesichts des überwiegendst weiblichen Publikums ein dringlicher Appell. Die Chefin der Kritikerjury, Dr. Susanne H. Becker, erwies dem in München ansässigen Arbeitskreis für Jugendliteraur ihre Reverenz dadurch, dass sie ein elegantes Dirndl trug.

Es gab Jahre, da war das Auditorium sehr begrenzt und die Einlasskarten Bückware. Dann folgte der überfällige Wechsel in den großen Saal Harmonie. Inzwischen werden zusätzlich zu den 1000 Sitzplätzen Stehplatzkarten vergeben. Man redet von der größten Veranstaltung der Buchmesse und Herr Boos betonte die Bedeutung der KJL für diese. Warum baut man dann das Auditorium nicht so um (was m. E. technisch möglich ist), dass die Stehplatzinhaberinnen und Treppensitzerinnen ordentliche Sitze bekommen?

Für die Auswahl gilt meine Bemerkung von 2009 und 2010 (s. u.): KJL zum Fall der Mauer, zur „Wende“ oder zur SED-Diktatur sind chancenlos. Zweiter Weltkrieg und Holocaust sind dagegen eine sichere Bank. (Um Missverständnissen vorzubeugen, liebe taz, liebe Antifa: Es geht mir weder um Leugnung noch um Relativierung.) Wenn ich nicht wüsste, dass sich Jugendliche dafür interessieren, dass es – vor allem im Osten – in den Schulen zu kurz kommt, dass – ebenfalls dort und keineswegs nur vereinzelt – eine DDR erinnert wird, die es so nie gab, und dass es nicht zuletzt diese Literatur gibt, würde ich nichts sagen. Zuletzt gab es 2003 von der Jugendbuchjury(!) einen Preis für „Krokodil im Nacken“ von Klaus Kordon.

Nun ist der Preis nicht unabhängig von den Interessen des Marktes. Es scheint also für Verlage uninteressant zu sein, von der DDR zu erzählen.

Dann erzählt mir ein ehemaliger Verlagsleiter, dass er schon in den 90ern eine Autorin ermuntert hatte, darüber ein Kinderbuch zu schreiben. („Ich kenne es!“ konnte ich rufen.) Leider habe man im Verlag ein langweiliges Cover und einen ebensolchen Titel gewählt.

Siehe Deutscher Jugendliteraturpreis im Basedow1764: 2009 und 2010.
Meine (sehr) unvollständige Liste von Jugendbüchern zur DDR

Schulbibliotheken in der DDR? Nachtrag

Im Juni hatte ich geschrieben:

„Der Bibliothekswissenschaftler Karsten Schuldt hat bibliotheksfachliche Literatur der DDR ausgewertet, findet aber … keine überzeugende Antwort. Er muss es bei Vermutungen belassen: „Offenbar“ habe es sie gegeben. Man könne daraus, dass so wenig über sie geredet und geschrieben wurde, nicht schließen, dass es sie nicht gegeben habe. Die Existenz eines Werkes wie Sallmon, Heinz: “Aufgaben der Schülerbücherei an den zehnklassigen Oberschulen” lege nahe, dass es sie gegeben haben muss. Vielleicht ging es Sallmon so wie mir: Er beschreibt Wünschenswertes.“ (Beitrag v. 20.6.12)

Jetzt macht mich Hans Günther Brée auf eine Stelle im „Turm“ von Uwe Tellkamp aufmerksam (Frankfurt am Main 2008, S. 112), in der beschrieben wird, wie eine Schulbibliothek in den 80er Jahren auch benutzt wurde:

 „[…] sie hatte sich die Haare gefönt in der Schulbibliothek, in der die Hälfte der Jungen während des Arbeitslagers untergebracht gewesen war […]“

Ein weiterer Nachtrag: In seiner sehr gründlichen Studie „Buch und Lesen in der DDR“ widmet Dietrich Löffler 3 der über 400 Seiten der schulischen Leseförderung. Schulbibliotheken kommen dort, wie im ganzen Buch nicht vor.

Es ist aber sehr lesenswert. Vom Mythos „Leseland“ bleibt bei Löffler nicht viel übrig, z. B.:

  • Während der gesamten Existenz dieses Staates gab es gerade einmal zwei Bibliotheksneubauten. Die Mehrzahl der öBen waren in wenig geeigneten Gebäuden untergebracht und hatten einen veralteten Bestand.
  • Die hohe Nachfrage nach Büchern erklärt sich u. a. so: Da den Buchhandlungen, außer Volksbuchhandlungen und NVA-Buchvertrieb, nie die bestellten Mengen, sondern nur ein kleiner Teil davon geliefert wurde, gaben die weit überhöhte Bestellungen auf.
  • Ein Vergleich des Leseverhaltens in Österreich und in der DDR zeigt wenig Unterschiede.
    Das Buch von Löffler gibt es in einer Lizenzausgabe bei der Bundeszentrale für politische Bildung.

Katastrophales Geschichtswissen: Je weniger ich weiß, desto besser finde ich die DDR

Prof. Klaus Schroeder legt nach. Seine Studie über das mangelhafte Schülerwissen über die DDR sorgte einst für Aufsehen. Damals schnitten die westdeutschen Schüler am besten, Berliner und Brandenburger Schüler am schlechtesten ab. In Brandenburg gab man sich Mühe die Studie zu zerpflücken: Man holte einen Hamburger Professor, der der Studie zwar in ihrem Ergebnis zustimmte, aber methodische Mängel gefunden haben wollte. Ein Potsdamer Geschichtsprofessor konterte, die ostdeutschen Schüler wüssten keineswegs nichts, sie wüssten anderes: Das Gute an der DDR, die Sozialpolitik, die Aufstiegschancen, die Frauenemanzipation usw., das Fortschrittliche an der DDR sei ihnen bekannt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er es nicht ironisch meinte.

Jetzt führt Schroeder den Nachweis, dass Schüler ganz generell in der Zeitgeschichte herumeiern, Hitler und Honecker, Diktatur und Demokratie nicht unterscheiden können. 7000 Neunt- und Zehntklässler wurden befragt.

post-edit 10.08.12:
Gefühlt wissen wir schon lange, dass es mit dem Geschichtswissen nicht weit her ist. Es liegt nicht zuletzt auch daran, wie Geschichte unterrichtet wird. In Hessen z. B. im 5. Schuljahr nicht, im 6. eine Stunde, im 8. keine Stunde, in 7. 9 und 10 zwei Stunden. Hauptschüler in fünf Jahren nur zwei Jahre, das dritte Jahr mit einer Stunde kann man getrost vergessen. In Brandenburg bleiben für Geschichtsunterricht über die DDR nach Stundentafel und Lehrplan gerade einmal ein paar Stunden im 10. Schuljahr. Erschwerend tritt hinzu, dass der Unterricht über die DDR „ausgewogen“ sein muss. In der öffentlichen Diskussion lässt sich das festmachen an der fehlenden Trennung zwischen der jeweils eigenen Biographie und der SED-Herrschaft. Dann wird jede Darstellung der Erscheinungsform einer Diktstur als Angriff auf die eigene Biographie erlebt. Und jene wird gleich mit verteidigt: Ein bisschen Rechtsstaat war sie doch auch, na ja, ein Schuss Willkür, aber das Verkehrsstrafrecht war o.k., wir hatten den besseren Sex und haben mehr gelacht. Ich resümiere das mit der Frage, sollen wir jetzt an der Tafel die Vor- und Nachteile einer Diktatur sammeln?
Weiterhin wird Geschichte von vielen Lehrern, Eltern und Schülern nicht als „Denkfach“ begriffen, sondern als „Paukfach“ gesehen. (Ein Vater: „Ich verstehe nicht, warum mein Kind eine Fünf in Geschi hat. Da muss man doch bloß ein paar Jahreszahlen auswendig lernen“.)
Als Geschichtslehrer und Geschichtslehrerausbilder habe ich auch darunter „gelitten“, dass sich als progressiv verstehende Religionslehrer politisch-historische Themen besetzten und im Jahr zuvor unterrichteten (inklusive Spielfilmen und Gedenkstättenbesuchen!). Auch Religions-Schulbücher lasen sich streckenweise wie historisch-politische Lehrbücher. Wenn ich dann im Jahr darauf mit meinen Arbeitsblättern kam, hieß es: „Nicht schon wieder!“ An einer Schule immerhin war mein Vorschlag erfolgreich, dass sich Religions- und Geschichtslehrer einmal zusammensetzten.

Ein neues Phänomen kommt hinzu: Der Einfluss von konstruktivistischer Lerntheorie, komptenzorientierter Curriculumplanung und „subjektorientierter Geschichtsdidaktik“. Wenn schon Elfjährige sich das Imperium Romanum aus Internetfundstellen konstruieren müssen, statt sich Orientierungswissen durch Schulbuchtexte und Lehrervortrag anzueignen, fehlt die Unterrichtszeit für die Ausbildung eines Gerüsts an Geschichtswissen. Letztlich gäbe es keinen objektiven Epochenüberblick. Wer an die Vermittlung von Geschichtswissen glaube, sei naiv. Jeder Schüler habe sein Vorwissen, seine Einstellungen, seine Vorurteile. Daraus konstruiere jeder sein Geschichtsnarrativ. Das mit den mitgebrachten Einstellungen ist ein ganz alter Hut. Aber daraus muss kein Verzicht auf Geschichtswissen resultieren.

Eine noch nicht einmal unintelligente Schülerantwort aus einem Politiktest ist mir in Erinnerung: Was ist Gewaltenteilung? Antwort: Die Mauer in Berlin.

Man soll Umfragen nicht überbewerten. Ein hervorragendes Faktenwissen hatten in meinen Klassen immer die Neonazis. Mir ist jemand, der Adenauer nicht einordnen kann, aber demokratisch denkt und handelt, lieber, als ein Stalinist, der jedes Hitler-Quiz gewinnen könnte. Gefährlich wird es, wenn sich demokratiefeindliche Einstellungen verfestigen würden. In einigen Landkreisen Sachsens, Brandenburgs, Mecklenburg-Vorpommerns sind Neonazis in der sog. gesellschaftlichen Mitte angekommen.

In Prof. Schroeders Studie zum DDR-Schülerwissen kam heraus, dass mit den Neonazis sympathisierende Jugendliche eine besonders positive Einstellung zur DDR hatten: Starker Staat, Militarismus, Zucht und Ordnung, das gefiel ihnen. Für Kinder der SED-Nomenklatura war die höchste Form der Abgrenzung vom Elternhaus die Sympathie mit den Nazis (Siehe etwa ein Mitglied der Zwickauer Terrorzelle).

post-edit 22.8.12:

Die Kernaussagen der Studie:

  • Viele Jugendliche können nicht zwischen Demokratie und Diktatur unterscheiden. Rund 40 Prozent sehen kaum Unterschiede zwischen Nationalsozialismus, der DDR sowie der Bundesrepublik vor und nach der Vereinigung.
  • Je besser das Wissen, desto häufiger werden Nationalsozialismus und DDR als Diktaturen eingestuft, alte und neue Bundesrepublik als Demokratien. 90% der Schüler mit hohem Kenntnisstand beurteilen DDR und NS-Staat negativ, aber nur 40% der Schüler mit einem niedrigen Kenntnisstand.
  • Den Nationalsozialismus beurteilen 16-18% der Jugendlichen mit türkisch-nahöstlichem Migrationshintergrund positiv, 8,4 % der Jugendlichen mit DDR-Eltern und 5 % derjenigen mit westdeutschen Eltern.
  • Bayerische Schüler liegen knapp vor Thüringen beim Wissensstand. Sie haben die höchste Ablehnungsquote von NS und DDR und die höchste Wertschätzung der Bundesrepublik. (In Bayern haben keine Gymnasiasten teilgenommen!)
  • Immerhin halten zwei Drittel „soziale Gerechtigkeit“ am besten in der neuen Bundesrepublik  verwirklicht. (Wussten die Probanden, was gemeint ist?) Auch wird für eine Fortsetzung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der DDR gestimmt.

Prof. Schroeder hält eine grundlegende Orientierung an Werten wie Freiheit, Rechtsstaat, Demokratie für unverzichtbar.

Schüler aus Berlin und Brandenburg, die bei der Teilstudie über das DDR-Wissen schlecht abgeschnitten hatten, durften nicht mitmachen.

FU-Mitteilung zur Studie

Schulbibliotheken in der DDR?

Damit bekomme ich meine beiden derzeitigen Schwerpunktthemen unter einen Hut. 🙂 Zugegeben, der Erkenntnisgewinn dürfte nicht hoch sein. In der heutigen Diskussion um zukunftsfähige Schulbibliotheken spielt die Frage keine Rolle. Ein neuer DDR-Mythos, vergleichbar mit dem Finnland- oder dem Kita-Mythos, zeichnet sich nicht ab. Wenn es Schulbibliotheken gegeben hätte, würden sie heute als DDR-Errungenschaft angeführt werden.

Die Frage nach dem Schulbibliothekswesen der DDR kann anscheinend nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Meine nicht als repräsentativ zu verstehende Umfrage im persönlichen Umfeld ergab, dass die Befragten sich nicht an Schulbibliotheken erinnern konnten. Sie nannten Fachkabinette, Büchersammlungen z. B. in den naturwissenschaftlichen Fachräumen, und vor allem Kinder- und Jugendbibliotheken der Kommunen, die sich teilweise in den Schulgebäuden befanden. Da konnte man Bücher ausleihen. Die weit verbreiteten städtischen Kinder- und Jugendbüchereien wurden meist nach 1989 „abgewickelt“.

Der Bibliothekswissenschaftler Karsten Schuldt hat bibliotheksfachliche Literatur der DDR ausgewertet, findet aber ebenfalls keine überzeugende Antwort. Er muss es bei Vermutungen belassen: „Offenbar“ habe es sie gegeben. Man könne daraus, dass so wenig über sie geredet und geschrieben wurde, nicht schließen, dass es sie nicht gegeben habe. Die Existenz eines Werkes wie Sallmon, Heinz: „Aufgaben der Schülerbücherei an den zehnklassigen Oberschulen“ lege nahe, dass es sie gegeben haben muss. Vielleicht ging es Sallmon so wie mir: Er beschreibt Wünschenswertes.

Hier eine Fußnote aus seiner Magisterarbeit:

„Das Bibliothekssystem in der DDR kannte in den letzten Jahren seiner Existenz keine eigenständigen Schulbibliotheken. In Zentralinstitut für Bibliotheksarbeit (1976) ist zum Beispiel von „Buchbeständen in Schulen“ (S.14) die Rede, welche die Aufgabe hätten, die als wichtig angesehene Arbeit von Bibliotheken mit Lernenden zu entlasten, indem sie vorrangig Nachschlagewerke zur Verfügung stellten. Als zu erreichendes Ziel wird vor allem genannt, Schülerinnen und Schüler auch im ländlichen Raum in der 8.-10. Klasse mindestens zu einem gemeinschaftlichen Bibliotheksbesuch zu verpflichten. Es lassen sich im Allgemeinen wenige Aussagen zur Schularbeit der Bibliotheken in der DDR finden. Erwähnt wird neben der Existenz von Buchbeständen eine engere Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bibliotheken, welche durch die relativ große Dichte von Öffentlichen Bibliotheken begünstigt wurde. Doderer et al. (1970, S.72-87) erwähnen eine Schülerbüchereiordnung sowie das Vorhaben, zentrale Schulbüchereien anzustreben, welche allerdings nicht in den Schulen platziert, sondern als selbstständige Einrichtungen funktionieren sollten. Die Senatsverwaltung für kulturelle Angelegenheiten (1992) berichtet von einer Vereinbarung zwischen dem Volksbildungs- und dem Kulturministerium von 1976, die bibliothekarische Versorgung der Kinder und Jugendlichen vollständig den Stadtteilbibliotheken als Aufgabe zu übertragen und die offenbar vorhandenen Schulbüchereien zu schließen. Im Hinblick auf die in dieser Arbeit gestellte Frage heißt dies, dass für die neuen Bundesländer eine Infrastruktur von und für Schulbibliotheken neu aufgebaut werden musste, während gleichzeitig das Bibliothekssystem seit 1989/1990 massiv zurückgebaut wurde. Eine umfassende Untersuchung zur Frage der Bibliotheksarbeit für Schulen in der DDR ist bis heute ein Forschungsdesiderat.“
(http://www.karstenschuldt.info/biwi/AktuelleAnforderungenAnSchulbibliotheken_1.htm#a21)

Bis in die 50er Jahre gab es noch viele reformpädagogisch orientierte Lehrer. Deren Nähe zum Lesen und zur Schulbibliothek mag die Beschäftigung mit diesem Thema – Es gab einige Zeitschriftenaufsätze – erklären. Ab Ende der 50er hatte die SED die reformpädagogisch orientierten Lehrer entfernt. Ab jetzt gaben zuverlässige junge Genossinnen und Genossen den Ton an. Möglicherweise hat einer von ihnen den gigantischen Plan, allen Schulen eine Bücherei zu verordnen, entwickelt, zu dem das Buch von Sallmon passt. Daraus wurde nichts.

Da sind wir mitten in der geschichtswissenschaftlichen Erkenntnistheorie: Darf man dem Zeitzeugen trauen? Bildet das, was die Mönche aufgeschrieben haben, den Alltag im Mittelalter ab? Ist der Bericht geschönt und verstellt den Blick auf die Wirklichkeit?

Aus schulischer Sicht könnte ich beitragen: In den Lehrerhandbüchern von Volk und Wissen waren die Stundenverläufe vorgezeichnet. Wo sollte da Platz für die Arbeit in der Schulbibliothek gewesen sein? Ausleihe eines Jugendbuches, o. k., aber Schwerpunkt war Stoffvermittlung im Frontalunterricht und die Festigung des Klassenstandpunktes. Ich habe die Lehrer wegen der fertigen Unterrichtvorbereitungen manchmal beneidet. Ich musste jede Stunde eigenverantwortlich planen. Ich musste entscheiden, wie ich vorgehe. Die für jede Stunde vorliegende Unterrichtsvorbereitung erleichterte mir den fachfremden Sportunterricht. Jeder Handgriff war beschrieben.

Doch, die DDR hatte auch was Gutes! 😉

Ich erinnere mich an einen Aufsatz in einer geschichtsdidaktischen Zeitschrift, in dem überlegt wurde, ob man nicht vielleicht doch einmal eine Gruppenarbeit wagen könnte. Für einen westdeutschen Geschichtslehrer eine aus der Welt gefallene Frage.

 

Siehe Schuldt, Karsten, Schülerbüchereien in der DDR (Zur Geschichte der Schulbibliotheken, IV), in seinem Weblog „Bildung und Gutes Leben“, Eintrag v. 23.3.2011 (Insgesamt vier Teile): https://bildungundgutesleben.wordpress.com/2011/03/24/schulerbuchereien-in-der-ddr-die-artikel-aus-der-bibliothekar-zur-geschichte-der-schulbibliotheken-iv/

Günther Brée weist mich auf die Erwähnung der Schulbibliothek in Uwe Tellkamps „Turm“ hin (S. 112). Wie wurde eine Schulbibliothek in den letzten Jahren der DDR  genutzt: „[…] sie hatte sich die Haare geföhnt in der Schulbibliothek, in der die Hälfte der Jungen während des Arbeitslagers untergebracht gewesen war […]“

Ansichten eines Potsdamer Piraten

Auch in Potsdam gibt es Piraten. Der Schatzmeister des Stadtverbandes wird auf einer ganzen Seite in der Märkischen Allgemeinen interviewt. U. a. gibt er diese Bemerkung von sich: „Was das geistige Eigentum von Autoren, Künstlern angeht: Diese haben durch ihre Ausbildung von der Gesellschaft profitiert. Warum sollte die Gesellschaft nicht von ihnen profitieren?“ Dieses Argument muss ich mal meinem Zahnarzt vortragen!

Wenn die im Piratensprech „Contentproduzenten“ Genannten dann nichts verdienen, greift wohl des „bedingungslose Grundeinkommen“. Oder sollen Künstler reale Piraten werden?

Übrigens plagiiert er: Mit derselben Begründung hatte die SED den Insassen ihres Staates das Verlassen desselben verboten.

An weiteren gruseligen Bemerkungen lässt es das bunte Völkchen der Piratenpartei nicht fehlen. Unverkrampfter Umgang mit der Geschichte gehört immer wieder dazu: Der Gang zur Arbeitsagentur ist für Hartz IV-Empfänger wie der Gang in die Gaskammer: Pirat Sebastian Hochwart fühlt sich als KZ-Opfer.

Promotion als Nebentätigkeit

Ich habe es nicht vergessen: Ein Mitglied des Kollegiums fehlte häufig tageweise, mehr als ein ganzes Jahr. Wie üblich mussten die nicht-kranken Kollegen ihn in seinen Klassen vertreten. Wie das dann so der Alltag im Lehrerzimmer ist: Man freut sich, dass man Morgen erst zur 2. Stunde kommen müsste, aber… Oder man will die „Freistunde“ nutzen, um Hefte zu korrigieren oder den Kartenraum aufzuräumen, aber … Man macht es arg- und klaglos. Man kann ja selbst auch einmal krank werden.

Bald darauf schmückt sich der Kollege mit einem Doktortitel. Jetzt ist klar, warum er so häufig seinen Unterricht schwänzte.

Die Geschichte fällt mir ein, wenn ich lese, dass einer beiden Geschäftsführer der Berlin-Brandenburger Flughafengesellschaft, Manfred Körtgen, sich promovieren lässt, mit einer Arbeit zu dem Thema, mit dem er gerade beschäftigt ist: Optimierung komplexer Planungsprozesse. Vielleicht hat es ja mit der Promotion geklappt, mit dem Thema hat´s in Schönefeld nicht so richtig geklappt. Seinen Job ist er los.

Nachtrag: Das Thema Dissertation tauchte in den Medien m. W. so gut wie nicht auf. Als es einmal erwähnt wurde, relativierte Ministerpräsident Platzeck, die Dissertation sei nicht „in der heißen Phase“ geschrieben worden, sondern vorher.

In diesem Fall kommt bei der Promotion noch ein weiterer Aspekt hinzu. Bei meinem Lehrerkollegen gab es ein Forschungsinteresse, das weit entfernt von seinem Unterricht lag. Er wurde über die Wortwahl bei einem bekannten deutschen Schriftsteller promoviert.

Dr. Körtgen hat das beschrieben, was er als Geschäftsführer gerade macht. Ähnlich  war es bei Dr. Paffhausen, dem Geschäftsführer der Potsdamer Stadtwerke „Energie und Wasser“, einem Konzern, aus dessen „Schattenhaushalt“ diverse Kommunalpolitiker Wohltaten finanzieren können. Auch er stützte sich in seiner Dissertation auf die Vorgänge, die er auf dem Tisch hatte. Anders als mein Kollege hatte er beim Zeitmanagement aber wohl bessere Ressourcen. Oder schrieb er seine Dissertation auch auf dem Rücken seiner Mitarbeiter?

Ich möchte nicht vorschnell urteilen. Vielleicht haben sich die Herren einen lang gehegten Wunsch erfüllt, konnten ihn nach dem Studium nicht realisieren. Vielleicht ging es ihnen nicht um Reputationsmanagement, sondern um echtes wissenschaftliches Erkenntnisinteresse. Aber ein Geschmäckle bleibt.

Ein Vorbild gab es in Potsdam für diese Art der Promotion: An der MfS-Hochschule in Potsdam-Golm war es die Regel, dass die Stasi-Offiziere den Doktortitel für ihre Fallbeschreibungen bekamen, dafür, wie sie Freundschaften zersetzten, sich das Vertrauen pubertierender Jugendlicher verschafften oder Volksschädlinge ausmerzten.

Stress in der Kinderkrippe und das Abitur

Einen erschreckenden Befund trägt Birgitta vom Lehn vor: Der Stresspegel bei Kleinkindern in Tagesbetreuungseinrichtungen steige im Tagesverlauf kontinuierlich an, unabhängig, wie gut die Einrichtung sei. Nur bei kürzerer Verweildauer sei der Anstieg geringer. Bei Kleinkindern, die zu Hause bleiben können, sei der Stresspegel am Morgen am höchsten und sinke dann tagsüber.

Man kann seit ca. zehn Jahren bei Kleinkindern das Stresshormon Cortisol nachweisen.

Dazu passen Befunde aus Langzeitstudien, die besagen, dass Kinder aus Krippenbetreuung im Alter von vier Jahren stärker zu Streit, Lügen, Sachbeschädigung und Kämpfen neigen, desto länger sie in einer Krippenbetreuung waren. Dasselbe ergab sich bei 15jährigen, die auffällig bei Diebstahl, Vandalismus, Alkohol- und Drogengebrauch wurden.

Die amerikanische NICHD-Langzeitstudie über außerfamiliäre Kleinkindbetreuung.

Ein Gutachten des Bundesfamilienministeriums dagegen ist – wenig überraschend –  sehr zurückhaltend in der Bewertung. Es betont die schlechte Übertragbarkeit auf Deutschland und stellt positive Effekte der Fremdbetreuung auf Sprach- und kognitive Entwicklung bei Kleinkindern aus bildungsfernen Familien heraus. Bekannt war mir bisher nur eine Bertelsmann-Studie, mit der die Stiftung auf den Ausbau von Krippenplätzen drängte, weil das die Chance von Kindern aus benachteiligten Familien, das Gymnasium zu besuchen, erhöhen würde. Diese Studie wiederum ist höchst umstritten, da der behauptete Kausalzusammenhang zwischen Krippen- und Gymnasiumsbesuch nicht belegt wurde.

In Deutschland fordern Gewerkschaftsbund und Arbeitgeber gemeinsam den Ausbau der Krippenunterbringung.

In Wikipedia wird darauf hingewiesen, dass die in Ostdeutschland übliche frühe und lange Krippenbetreuung keineswegs durchweg zu höheren Kompetenzniveaus geführt hätte und die Sozialkompetenz sogar schlechter als in Westdeutschland ausgefallen sei. Allerdings kann auch hier nur spekuliert werden, ob die nahezu flächendeckende Krippenerziehung damit zusammenhängt. Immerhin zeigt sich, dass diese allseits bewunderte, von der SED bewirkte Großtat nicht zu besseren Schülern oder  verantwortungsvolleren Menschen geführt hat.

Siehe dazu PISA-E-Zusammenfassung, S. 29-33. (PISA 2000). Die Untersuchung bescheinigt ostdeutschen 15jährigen erheblich ungünstigere Werte bei sozialen Kompetenzen und der Bereitschaft zu gesellschaftlicher Verantwortungsübernahme. (Items: DRK, freiw. Feuerwehr, Kirche, Jugendarbeit, Senioren, Knochenmarkspendenbereitschaft, pol. Teilnahme [Mitgliedschaft, Wahlbeteiligung], Engagement allgemein; Zahl der Einrichtungen d. Jugendarbeit)

Der Kinderpädiater Dr. Rainer Böhm gehört zu denen, die auf diese Studien aufmerksam machen. Er kann auch erzählen, wie schwer ihm das gemacht wird. Er resümiert in einem ganzseitigen Artikel in der FAZ v. 4.4.12, S. 7 (Gegenwart):

„Aber es führt kein Weg um die Einsicht herum, dass die Mehrheit ganztagsbetreuter Krippenkinder, selbst wenn sie in schönen Räumen mit anregendem Spielzeug von engagierten Erzieher/-innen betreut wird, den Tag in ängstlicher Anspannung verbringt, dass sich dies bei einem Teil der Kinder in anhaltenden Verhaltensauffälligkeiten niederschlägt und dass mit dieser Form der Betreuung Risiken für die langfristige seelische und körperliche Entwicklung einhergehen.“

Update 29.4.12: Bemerkenswert, wie informationsresistent Politiker sind: Hannelore Kraft weiß, dass die teuren Kita-Plätze sich nach einem Jahr amortisieren, da die Frauen arbeiten gehen und Steuern zahlen. Sie fordert Kita-Pflicht für alle Kinder. Cem Özdemir will das mindestens diskutiert wissen.

Nachtrag zum Update: Frau Kraft hat bestritten, dass sie mit „alle Kinder sollen in die Kita“ eine Kita-Pflicht gemeint hätte.

Nachtrag: Zum Thema passt ein Leserbrief einer ehemaligen Kinderärztin in der DDR in der FAZ: „Warum muss Westdeutschland das (unglückliche!) Experiment Ostdeutschlands wiederholen? Als Kinderärztin und Mutter weiß ich nur zu gut, was für einen Stress für Mutter und Kind die frühe Unterbringung in Kinderkrippen bedeutet.“

Anm. GS: Die best ausgestatteten Krippen hatte das MfS für die Kinder seiner Mitarbeiter

Nachträge: Das US-amerikanische „Headstart“-Programm der Frühförderung benachteiligter Kinder wird von empirischen Bildungsforschern begleitet. Ihre Befunde widersprechen sich teilweise. Es ist sehr schwer herauszukriegen, was nützt und was nicht.

Ein Hinweis im Deutschlandradio auf: Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling (Hrsg.): Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit. Brandes & Apsel.

Eine fünfjährige psychoanalytische Behandlung deckt als Ursache psychischer und physischer Erkrankungen die DDR-Krippe auf: Ann Kathrin Scheerer. Einen Überblick über das Thema gibt Ann Kathrin Scheerer, Krippenbetreuung als ambivalentes Unternehmen.

Die Satire zum Betreuungsgeld: Ein Geheimpapier der OECD besagt: „Es kann nicht länger geduldet werden, dass Mütter ihre Kleinkinder selber erziehen. Mit dieser uralten, aber völlig veralteten Sitte muss Schluss gemacht werden.“

Update November 2012: Bei anderen sozial- oder bildungspolitischen Themen schaut man gerne nach Skandinavien. Warum hier nicht? Dort werden zwischen 300 (Finnland) und 400 € (Norwegen) Betreuungsgeld gezahlt.

Kita-Besuch ist in Finnland sehr gering. Die PISA-Schulleistungen aber sehr hoch. Gibt es da einen Zusammenhang?