Das neue Jahr fängt an, wie das alte aufgehört hat. Die Melodie ändert sich nicht. Eine neue ist, trotz aller Beteuerungen, nicht zu hören.
Was ist der Anlass für diese kryptische Bemerkung?
ENSIL, die europäische Mailing List für Schulbibliothekare, informiert die Teilnehmer über einen Link auf goethe.de, der vom Deutschen Bibliotheksverband an die US-amerikanische Schulbibliotheksprofessorin Dianne Oberg geschickt wurde und jetzt auch bei ENSIL gelandet ist. Auf goethe.de wäre ein pdf, das einen aktuellen Überblick über das deutsche Bibliothekswesen gäbe, auf zwei von 128 Seiten auch über das Schulbibliothekswesen, 3. durchgesehene Auflage, in Englisch.
Meine Enttäuschung war groß, als ich entdeckte, dass es sich um eine Abhandlung vom Anfang des Jahrtausends handelt, die ich (in Deutsch) schon vor ca. zehn Jahren (2007?) in den elektronischen Papierkorb geworfen hatte (Jürgen Seefeldt and Ludger Syré, Portals to the Past and to the Future – Libraries in Germany). Die englische Übersetzung wurde 2011 publiziert auf der Basis der Bibliotheksstatistik von 2009. Im Vorwort wird von Aktualisierungen gesprochen.
Die zwei Seiten zur Schulbibliothek sind auf Englisch genauso enttäuschend wie vor Jahren auf Deutsch:
- Da ist die PISA-Gebetsmühle vom Zusammenhang des schlechten deutschen Abschneidens mit dem Fehlen von Schulbibliotheken. Trotz angeblicher Aktualisierungen fehlt der Hinweis, dass die deutschen PISA-Ergebnisse auch ohne mehr Schulbibliotheken besser geworden sind. (Was Schulbibliotheken dennoch nicht überflüssig macht.)
- Grund- und Mittelstufenschulen hätten kaum Bibliotheken. Das stimmt nur, wenn man die Messlatte der bibliotheksfachlichen Standards anlegt. Die kritische Diskussion über Sinn und Unsinn solcher bibliothekarischer Standards für Schulbibliotheken ist an den Autoren vorbeigegangen.
- Das Förderprogramm des Bundes für Ganztagsschulbauten hätte den Bau von Schulbibliotheken befördert. Das war nur in Hessen ansatzweise so. Die Kultusministerin bekam aber viel Ärger, weil das Geld dafür eigentlich nicht gedacht war. Außerdem: Es gab dann einen Raum, aber alle Folgeprobleme blieben weiterhin ungelöst.
- Die Bertelsmann-Aktion „Bibliothek und Schule“ wird gelobt („bewundernswert“), mit der fünf Stadtbibliotheken ihre Zusammenarbeit mit Schulen (nicht Schulbibliotheken!) intensivieren sollten. Sie stammt aus dem letzten Jahrhundert (90er Jahre). Die Bertelsmann-Stiftung spricht sich heute nicht mehr gegen die Einrichtung von Schulbibliotheken aus, sondern empfiehlt, wie vor dem „bewundernswerten“ Projekt, wieder Schulbibliotheken einzurichten. Syré/Seefeldt erwähnen also in ihrem Schulbibliotheks“kapitel“lobend ein Projekt, das Schulbibliotheken überflüssig machen sollte.
- Natürlich werden auch die Verträge des Deutschen Bibliotheksverbandes mit einigen Kultusministerien gelobt. Wieso die von den Autoren auf das Pluskonto von Schulbibliotheken gebucht werden, ist mir schleierhaft. Einzige Lösung: Syré/Seefeldt haben diese Verträge nie gelesen. Von Schulbibliotheken ist in den wenigsten dieser Vereinbarungen die Rede.
- Ein Drittel der Schulbibliotheken wären Zweigstellen öffentlicher Bibliotheken. Wie wurde diese hohe Zahl ermittelt? Kann es sein, dass diverse Kooperationsformen (Bücherkistenausleihe u. ä.) mitgezählt wurden?
- Bei der Handvoll schulbibliothekarischer Arbeitsstellen, die entstanden sein sollen, wird auch Wiesbaden genannt. Diese verlor durch Schließung ihre zugeordneten Stadtteil- und Schulbibliotheken. Auch die Arbeitsstelle in Offenbach a. M. erlebte die Schließung ihrer einizen Kombi-Bibliothek in einer Schule.
Dass so viel Unfug vom Deutschen Bibliotheksverband und dem Goethe-Institut weltweit verbreitet wird, ist peinlich.
Vor allem tun mir die reformbereiten (Schul-)Bibliothekarinnen leid, die mir sagen, es tut sich doch endlich etwas, der Bibliotheksverband berät, neue Verbandsobere wären aufgeschlossener.
Mein Überblick über Schulbibliotheken in Deutschland