Die Schriftstellerin Heike Geißler hat als Saisonaushilfe bei Amazon gearbeitet und daraus ein Buch gemacht: „Saisonarbeit“. FAZ und SZ sind begeistert. Man müsse das Buch unbedingt zur Weihnachtszeit lesen, schreibt Morten Freidel in der FAZ.
Für eine Intellektuelle ist die Arbeit bei Amazon eine Zumutung, Frau Geißler fühlt sich geistig ausgehöhlt. Da wäre kein Ich, das sich selbst verwirkliche. Saisonkräfte bei Amazon kennten nur die Macht der Verhältnisse. Für sie gälte das Versprechen des sozialen Aufstiegs schon lange nicht mehr. Sie kämen bereits als Scherbenhaufen im Logistikzentrum an. Amazon scherte es nicht, wenn man scheitere – ein älterer Mann hatte Mühe gehabt, einen Karton zusammenzusetzen. Das Warenlager schlucke alle Gedanken, Gedankenfetzen richteten sich auf die nächste Pause. Freidels Rezension ist kongenial zu Geißlers Text. Schließlich hat er einmal einen Schreiblehrgang des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig besucht. Karl Marx dreht sich wohl im Grabe um. So unmenschlich hat noch nicht einmal er den Kapitalismus beschrieben.
Es sind nicht nur die angeblich inhumanen Arbeitsbedingungen, die Frau Geißler abstoßen, auch das, was das gemeine Volk dort bestellt und sie als vorübergehend prekär Beschäftigte aus dem Regal holen muss, ist Igitt: Plüschtiere, das Yoga-Tagebuch und Mombel Wombel. Ganz schlimm für Geißler und Freidel: Saisonarbeiter würden nach Weihnachten entsorgt. Das hatte schon einmal einen rbb-Reporter irritiert. Der fragte eine Amazon-Saisonkraft nämlich: „Wann haben Sie erfahren, dass Sie entlassen werden?“ Dass der Amazon-Geschäftsführer in einem Interview sagte, im Landkreis Bad Hersfeld seien viele Hausfrauen an einem Halbtagsjob interessiert oder würden die Saisonarbeit nutzen, um für Urlaub oder ein neues Auto dazu verdienen wollen, kümmert die Kulturschaffenden nicht. Ist ja auch Kapitalistengeschwätz, man muss das nicht nachprüfen.
Den ehemaligen Bauarbeiter, den ich in einer TV-Dokumentation sagen hörte, er sei froh, bei Amazon zu arbeiten, in seinem früheren Beruf sei es härter gewesen, haben sie nicht ausfindig gemacht, um herauszufinden, ob er für seine Aussage von Amazon bezahlt worden wäre.
Das Ganze erinnert mich, daran, wie wir vor Jahrzehnten unsere Schüler mit dem Wallraff-Text „Am Fließband“ traktiert haben. Die anschließende Betriebsbesichtigung bei Opel in Rüsselsheim muss dann wohl getürkt gewesen sein. Zumindest in der halben Stunde, in der wir zusehen durften, wurde Wallraff Lügen gestraft. Im Unterricht erzählten wir von dem Teammodell, mit dem Volvo (?) in Schweden Autos zusammenbaue. Das wäre humane Arbeitswelt. Wir erzählten das auch noch, als Volvo – im Einvernehmen mit der Gewerkschaft – das Modell längst in die Mottenkiste gepackt hatte. Was waren das für verrückte Zeiten, als Frankfurter Studenten sich einmal mitten in der Nacht aus den Federn bemühten, um bei Beginn der Frühschicht in Rüsselsheim für die Revolution zu werben. (Bei Bandarbeiter/-innen, die, was Arbeitszeit und Bezahlung anging, zu den industriellen Spitzenverdienern gehörten.)
Für Frau Geißler gäbe es noch viele lohnenswerte Ausflüge in die Arbeitswelt: Unmenschlich früh aufstehen in der Bäckerei, Lkw-Fahrer, die rund um die Uhr auf der Autobahn unterwegs sind, damit die Kulturschaffenden französische Weine, neuseeländische Mineralwässer und Kumquats aus Korfu genießen können, die Schinderei in Restaurantküchen, die krummen Rücken bei der Saisonarbeit auf den Spargelfeldern, die Niedrigstlöhne im Gaststättengewerbe (auch in den Szenekneipen am Prenzlauer Berg), das abendliche Putzen in den Bürohochhäusern. Wie wäre es mit einem Praktikum bei Google oder Facebook? Den hübschen Fotos von Lounges, Fitnesszentren und Kaffeemaschinen zum Trotz, ist die Arbeitsbelastung dort eher größer als in Bad Hersfeld oder Brieselang.
(Der Titel des Beitrages ist die Überschrift für die Rezension des Buches in der FAZ v. 24.12.)