Die falschen Prämissen führen nicht weiter

Der Bibliothekswissenschaftler Dr. Karsten Schuldt ist ein engagierter Streiter für Schulbibliotheken. Obwohl es nicht sein wissenschaftlicher Schwerpunkt ist, liefert er wertvolle Beiträge zum Thema. Gerne provoziert er dabei  die Bibliothekars-Community mit seinen Thesen. Uns hessische Barfuß-Schulbibliothare erfreuen seine unorthodoxen Ansichten, sagen wir doch seit Jahren und sogar Jahrzehnten dasselbe, wenngleich nicht so gründlich recherchiert, belegt und mit Literatur untermauert, wie er das als Wissenschaftler tut. (Basedow1764 hat dazu Beiträge geschrieben.)

So stellt er die These von Bibliothekaren auf den Prüfstand, dass Länder mit guten Schulbibliothekssystemen bei PISA am besten abschneiden würden. Er bewertete in mühevoller Kleinarbeit die Schulbibliothekssysteme von Staaten und stellte dem die nationalen PISA-Werte gegenüber. Da sah die Bibliothekarsthese alt aus. Wir sahen das genauso: Die hoch gelobte Wiesbadener Helene-Lange-Schule hatte Spitzenwerte bei PISA (internationales Ranking!). Die frühere Schulleiterin Enja Riegel wollte keine Schulbibliothek. Die Schüler sollten sich draußen im wirklichen Leben zurechtfinden, also auch in der Stadtbibliothek. Die Bundesländer Thüringen, Sachsen und sogar Brandenburg stiegen zuletzt im PISA-Ranking auf. Dass sie in Sachen Schulbibliothek etwas getan hätten, ist nicht festzustellen. (Zu Finnland, wo massenhaft Schulbibliotheken vermutet werden, hat Basedow1764 schon im Blog geschrieben.)

Karsten Schuldt sieht in schulbibliothekarischen Großprojekten wenig Nutzen. Er belegt das am Beispiel Weinheims in Hessen (Das ist so lange her, dass das kaum jemand noch weiß) und am Beispiel Hamburgs. Beide Schulbibliotheksprojekte endeten sang- und klanglos (Hamburgs Modellversuch mit wissenschaftlicher Begleitung von zehn nagelneuen Schulbibliotheken wurde vorzeitig von einer neuen Landesregierung abgebrochen. Eine nachhaltige Auswirkung auf das vorhandene Schulbibliothekswesen hatten die mit viel Geld geschaffenen neuen großen Schulbibliotheken nicht. Die wurden vor den Projekten, während der Projekte und dann wieder danach vernachlässigt.

Wir hessischen Asterixe können ein Lied davon singen. Über 1.500 Schulbibliotheken existieren mehr schlecht als recht mit Hilfe von Spenden und durch ehrenamtliche Arbeit. Man steht sprachlos vor der Lust an immer neuen Modellversuchen und großen Zahlen.

Schon zu Zeiten von Niels Hoebbel Anfang der 80er Jahre fielen fast alle hessischen Schulbüchereien durch sein Raster: Wer hatte schon >10.000 Medieneinheiten? Da fing die Schulbibliothek nämlich erst richtig an. Folgerichtig hätte es in Hessen kaum eine Schulbibliothek gegeben. Bis heute aber existieren diese kleinen „Schulbibliotheken von unten“, für die sich niemand interessiert. Für die Bibliotheksfunktonär/-innen und die ihnen folgende hessische Bildungspolitik zählt nur die Kombibibliothek, die große Zweigstelle der Stadtbücherei in einer Schule. Davon wird jährlich, wenn es überhaupt so viele sind, gerade einmal eine eröffnet oder ihre Eröffnung wird angekündigt oder der Oberbürgermeister ist der Idee nicht abgeneigt (und anderswo werden zwei zugemacht.)

Jetzt richtet Schuldt sein Augenmerk auf Richtlinien für Schulbibliotheken. Er hält sie für wenig praxiswirksam. Auch damit rennt er bei der hessischen LAG offene Türen ein. Schon früh in meinem schulbibliothekarischen Leben konnte ich das Wort „IFLA/UNESCO-Richtlinien“ nicht mehr hören. In Gesprächen mit Bibliothekar/-innen ging es gefühlt in jedem zweiten Satz um Richtlinien. „Kennst du die IFLA-Richtlinien?“, „Die IFLA-Richtlinien verlangen, dass…“, „Welche Schulbibliotheken entsprechen denn den IFLA-Richtlinien?“.

Gerade wurden die IFLA-Richtlinien überarbeitet. „Es gibt neue IFLA-Richtlinien!“, „Kennst Du schon…?“, „Sorry for crossposting: Es gibt neue…“.  Dutzende Bachelor- und Magisterarbeiten werden wieder geschrieben werden. Ein Buch, das Schuldt verrreißt, ist schon erschienen.

Lehrer wissen, wie wenig praxiswirksam Lehrpläne sind. Richtlinienbgläubigkeit ist bei ihnen wenig verbreitet (Die wird ihnen jetzt allerdings im Zuge der Kompetenzorientierung antrainiert.)

In der Regel haben Bibliothekare bibliotheksfachliche Standards formuliert, Schule und ihre Erfordernisse spielten (von Ausnahmen abgesehen) keine Rolle. Nicht vergessen wurden die Standards Arbeitsplätze für Diplom-Bibliothekare und Anwendung der Regelsysteme für Katalogisierung und Systematisierung. (Gegen letztere ist nichts einzuwenden, sofern sie nicht als Einstiegserfordernis betrachtet werden, sondern am Ende einer Entwicklung stehen. Bei ersteren sollte aber eine pädagische und mediendidaktische Ausbildungskomponente dazugehören.)

Wir haben immer wieder gesehen, dass in ehren- und nebenamtlich betriebenen Schulbibliotheken, für die IFLA/UNESCO-Richtlinien unerreichbar waren, manches Mal mehr Leben herrschte, also mehr Leseförderaktionen und Unterricht stattfand, als in großen, regelgerecht betriebenen „richtigen“ Schulbibliotheken. Jene zu unterstützen und von ihnen zu lernen, wäre wichtig – evidenzbasierte statt richtliniengerechte Weiterentwicklung kann man das wohl nennen. Nicht zuletzt deswegen gibt es die „Schulbibliotheken des Jahres“, damit sich best practice herumspricht.

Dr. Schuldt hat noch mehr Provokationen geschrieben. 2013 hatte ich ihn schon einmal im Blog erwähnt.

7 Gedanken zu „Die falschen Prämissen führen nicht weiter

  1. Irina Nehme

    Liebe Herr Schlamp, ich schätze sehr Ihre Verdienste um das Schulbibliothekswesen in Deutschland und gebe Ihnen vielleicht sogar recht, dass die wenigsten Bibliotheken in Deutschland diesen Richtlinien entsprechen. Kanadische Kolleginnen geben auch Beispiele aus der Praxis ihrer Schulbibliotheken, dass es dort auch Gegenbeispiele gibt, wenn die Schulbibliotheken von ihrer Einrichtung her (Input) die Standards mehr als erfüllen und dennoch keine erfolgreiche schulbibliothekarische Arbeit leisten (Output). Was passiert aber, wenn man keinerlei nationale Standards hat, wie es in Deutschland der Fall ist, seit das Bibliotheksinstitut abgewickelt wurde und seine letzten Richtlinien aus dem 1999 zum großen Teil aufgrund der rasanten technischen Entwicklung in den letzten Dekaden nicht mehr zeitgemäß sind. Als eine Möglichkeit – man bedienst sich von den Nachbarn: die Österreicher, die Schweizer, die Südtiroler haben ganz klare und eindeutige Richtlinien. Nur leider werden diese bei Verantwortungsträgern in Deutschland nicht anerkannt. So wird voraussichtlich z.B. die Schulbibliothek im Schulzentrum Langenhagen im Neubau um mehrfaches schrumpfen, weil die Schulbibliothekarin dem Schuldirektor und den Zuständigen in der Stadtverwaltung keine aktuellen Richtwerte für die Einrichtung der Schulbibliotheken in Deutschland liefern konnte. Die aktuellen IFLA-Richtlinien liefern auch keine Zahlen, weil diese auf lokale Möglichkeiten und Gegebenheiten nach dem Motto „Think global, act local“ anzupassen sind. Es geht auch nicht darum sich sklavisch an alle Empfehlungen zu klammern, sondern einen gemeinsamen Nenner, vor allem in der Funktion der Schulbibliotheken zu haben, unabhängig davon, ob man schulbibliothekarische Arbeit in Deutschland, Libanon, Chili, Australien, Kamerun oder Kanada leistet. Für mich persönlich sind die Richtlinien in dreizehn Jahren meiner Tätigkeit als Schulbibliothekarin ein hilfreicher Rahmen, in dem ich mich frei nach lokalen Gegebenheiten bewege. Mindesten so hilfreich wie Ihre vierdienstreichen Veröffentlichungen zu Schulbibliotheken, lieber Herr Schlamp.
    Mit besten Grüßen aus Zagreb von dem Treffen des Ständigen Ausschusses der IFLA-Sektion Schulbibliotheken von dem deutschen Mitglied Irina Nehme
    P.S. Die deutsche Übersetzung der Richtlinien ist übrigens in Arbeit

    Antwort
    1. Basedow1764 Autor

      Liebe Frau Nehme,
      ich freue mich von Ihnen zu hören.

      Im Grunde habe auch ich nichts gegen Richtlinien. Aber:
      Seit ca. 60 Jahren ist das öffentliche Bibliothekswesen zuständig für Schulbibliotheken. Warum haben die bibliothekarischen Interessenvertreter/-innen es in dieser Zeit nicht fertig gebracht, für Richtlinien zu sorgen? Bis heute wird dafür gesorgt, die Schulbibliotheken nicht zu sehr im Schulwesen zu verankern, sondern im Bibliothekswesen. Es gibt Schulgesetze, da stehen sie noch nicht einmal als Worthülse drin, dafür aber ungereimt in Bibliotheksgesetzen.
      Was über IFLA-/UNESCO-Richtlinien zu sagen ist, hat der Bibliothekswissenschaftler Schuldt gesagt. Ähnlich haben wir in Hessen schon die überzogene Definition des Schulbibliotheksbüros im ehemaligen dbi gesehen. Danach gab es in Hessen 3 „richtige“ Schulbibliotheken (Kriterium: Bestand > als 10.000 ME oder so ähnlich.) Auch das geht bis heute weiter: Die Rede von den 5-10% der Schulen, die eine „richtige“ Schulbibliothek hätten. Tausende von Schulbibliotheken fallen unter den Tisch und – das ist das Schlimme – haben keine Entwicklungsperspektive. Weil es sie schlicht nicht geben soll. Dafür gibt es in jedem Jahrzehnt einen Großversuch mit neuen Schulbibliotheken und wissenschaftlicher Begleitung (Hamburg, Weinheim, Kombi-bibliotheken in Bremens Gesamtschulen, SBen in Berliner Oberstufenzentren, die im Sande verlaufen oder abgebrochedn werden.)
      In Brandenburg gab es sogar eine Protokollnotiz zwischen Ministerium und Fachstelle öB, dass es keine Förderung innerschulischer Bibliotheken geben soll. (Das Papier verschwand aus dem Internet, nachdem ich es bekannt gemacht hatte.)
      Wenn es um Zahlenwerte für Schulverwaltungs- und Kreisbauämter geht, genügte ein Datenblatt á la Schweizer Richtlinien. Das Hauptproblem liegt aber gar nicht in der Existenz von Richtlinien (Auch die hessische LAG hat eine Definition von SB abgeliefert.) Das Hauptproblem ist die fehlende Verbindlichkeit, d. h. eine Vorschrift, dass Schulbibliotheken zu bauen, einzurichten und zu unterhalten sind.
      Damit bin ich wieder am Anfang meiner Antwort. Die fatale Weichenstellung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik kommt den Bildungspolitiker/-innen zugute: Schulbibliothek gehört nicht zu ihren Aufgaben. Das ist Sache des öffentlichen Bibliothekswesens.
      Angesichts der aktuellen politischen und finanziellen Probleme in unserem Land sehe ich für institutionelle Lösungen für Schulbibliotheken schwarz.

      Was geht sind lokale Anstrengungen. Das zeigt die Berliner AGSBB. In Hessen konnten wir fast zwei Jahrzehnte informell im gespräch mit dem Ministerium etwas bewegen. Seit es den Kooperationsvertrag dbv-Land Hessen gibt, verweist das Ministerium darauf. Aber: Eine der beiden (halben) Lehrerstellen, die das KM dafür hergegeben hatte, wird jetzt, nach dem Ausscheiden der Person aus dem Dienst, nicht mehr besetzt.

      Ein Grund, warum Richtlinien für mich keine hohe Priorität besitzen, mag biographisch bedingt sein. In meinen 35 Dienstjahren war ich 6 oder 7 Lehrplänen allein in den Fächern Geschichte/Politik unterworfen. Unser Motto war schließlich: Egal welcher Plan gerade gilt, wir unterrichten so, wie wir es für richtig halten. Es gab ja die Verpflichtung, dem Stand der Wissenschaft entsprechend zu unterrichten. Außerdem passten die Eltern schon auf, dass ordentlich gelernt wurde.

      Wie geht es Ihnen. Wenn Sie einmal in der Gend sind, würde ich mich freuen, Sie zu treffen.

    2. Irina Nehme

      Guten Abend Herr Schlamp,
      danke Ihrer Nachfrage, es geht mir gut. Hoffe Ihnen auch! Bin sogar über Pfingsten in der Gegend und wenn Ihre Handynummer seit Ihrem Besuch in Beirut sich nicht verändert hat (……….16?) würde ich Sie kurzfristig telefonisch kontaktieren. Vielleicht lassen sich bei dem gemeinsamen Besuch der aktuellen Ausstellung „Relikte des kalten Krieges“ am Samstag, 14. Mai so einige Relikte des Kriegsschauplatzes „Deutsches Schulbibliothekswesen“ begraben?! 😉
      Wobei bei dem IFLA-Treffen in Zagrev habe ich mich eher dazu entschieden in einer Performance a la Brecht es nach dem Motiv des russischen Fabeldichters Iwan Krylow „Der Der Schwan, der Hecht und der Krebs“ darzustellen.

      „Wenn zur Genossenschaft sich Eintracht nicht gesellt,
      Ist’s mit dem Werke schlecht bestellt:
      Es gibt nur Quälerei, und man bringt’s nicht zurecht.
      Einst wollten Schwan und Krebs und Hecht
      Fortschieben einen Karrn mit seiner Last
      Und spannten sich zu drein davor mit Hast.
      Sie tun ihr Äußerstes; er rückt nicht von der Stelle.
      Die Last an sich wär‘ ihnen leicht genug,
      Allein der Schwan nimmt aufwärts seinen Flug.
      Der Krebs kreucht rückwärts, und der Hecht strebt in die Welle.
      Wer schuld nun ist, wer nicht, darüber hier kein Wort,
      Der Karren aber steht noch dort.“

      Ich bevorzuge es aber mich vielfältig zu engagieren als Streitgespräche und -schriften zu führen.

      Hoffentlich bis bald.

  2. Pingback: Basedow1764 wird gelesen! | Basedow1764's Weblog

  3. Christoph Müller

    Sehr interessanter Beitrag von Dr. Schuldt! In Sachen Praxisferne von publizierenden und beratenden BibliothekarInnen habe ich auch so meine Erfahrungen, ein Beispiel:

    Seit Jahren erhalte ich Anrufe und E-Mails von verunsicherten Lehrern, die sich danach erkundigen, ob denn meine Bibliothekssoftware mit der örtlichen Bücherei vernetzen kann und ob sie auch Onleihe kann. Dann ist mir gleich klar, wer hier berät. Es ist ja nicht so, dass ich diese (verfügbaren) Funktionen nicht gerne verkaufen würde. Aber der Fakt, dass dazu noch keine Bestellung eingegangen ist, zeigt: Diese „Standards“ waren dann doch nicht so wichtig.

    In der Hoffnung, Lehrern im Vorfeld vor dieser Verunsicherung zu bewahren, habe ich kürzlich meine Internetseite um folgenden Tipp erweitert:

    „Prüfen Sie Rat von BibliothekarInnen selbstbewusst. Möglicherweise enthalten diese Beratungen auch Forderungen an die Software, die im Interesse der Öffentlichen Bibliothek und/oder des bibliothekarischen Berufsstands sind, aber nicht primär im Interesse der Schule. Potentiell sind dies die Verbundrecherche sowie die Onleihe. Alles Dinge, die Sie mit Perpustakaan solide verwirklichen können, aber erstens möglicherweise nicht als primäres Interesse der Schule und zweitens nicht gleich zu Beginn der Einführung der Bibliothekssoftware. Vorsicht ist insbesondere geboten gegenüber Aussagen, dass Schule und Öffentliche Bibliothek im Idealfall die gleiche Software verwenden sollten. Die Folgen dieser Wettbewerbs-Behinderung gehen zu Lasten der Schule: erhöhte Kosten, fehlende Funktionen für Schulen sowie mangelnde Einfachheit in der Bedienung.“

    Antwort
    1. Basedow1764 Autor

      Hallo, Herr Müller, Ihren Tipp halte ich für sehr hilfreich.
      Im übrigen bin ich dankbar, dass Sie in diesem Zusammenhang auf Software hinweisen. Dass in Hessen vor zwanzig Jahren für die Schulen eine landeseinheitliche Software eingeführt wurde, die anfänglich so gar nicht bibliotheksfachlichen Katalogisierungsregeln entsprach, die aber heute erfolgreich in 80% der Schulen läuft, wird von Fachbibliothekar/-innen und ihren Verbänden bis heute – zurückhaltend formuliert – nur schwer ertragen.

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