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Schulbibliotheken in USA: Pfeifen im dunklen Wald?

Die USA als schulbibliothekarisches Musterland zu loben, war schon immer nicht ganz einfach. Es gibt zwar nahezu flächendeckend Medienzentren in den Schulen und Ausbildungsgänge in Hochschulen. Die weniger helle Seite: Die Nutzung war bisher sehr starr über den Klassenstundenplan geregelt, spontane Nutzung so gut wie ausgeschlossen. Die Schüler arbeiteten ihre Aufträge ab und wurden an den Katalog geschickt, wenn sie etwas suchten. Die Betriebsamkeit, die ich in schwedischen oder britischen Schulbibliotheken sah, fand ich dort nicht.

Und was noch auffällt: Viele US-Schulbibliotheksspezialisten fühlen sich von Fachlehrern (und den Schülern) nicht anerkannt. Die Selbstvergewisserung, der Kummer über Geringschätzung in den Schulen, die gegenseitige Beteuerung, wie wichtig man sei, ist nicht neu. Das konnte man schon Mitte der 90er in der mailing list LM-Net nachlesen. Jetzt erfolgt die Begründung der Unverzichtbarkeit wegen der Digitalisierung und Internettisierung.

Das erinnert ein wenig an das Pfeifen im dunklen Wald. Es gibt ein noch besseres Bild: In der Sowjetunion war in der Propaganda ständig von Arbeit die Rede. Es gab die Ernteschlachten, die Sondereinsätze, den Stachanow-Orden, Infotafeln über die Produktionsleistung in den Fabrikhallen. Ständig und überall wurde beschworen, wie wichtig Arbeit sei. In Moskau waren derweil die Bürgersteige während der Arbeitsstunden voll von Werktätigen. Irgendetwas schien mit dem Thema „Arbeit“ in der UdSSR nicht zu stimmen, daher wohl das ständige Einhämmern mit motivierenden, fordernden, mahnenden Parolen.

Mir fehlen kritische Betrachtungen der US-Schulbibliothekspraxis. Allenfalls bringen Schulbibliotheksprofessoren „ihre“ Klientel gelegentlich mit kritischen Fragestellungen zum Nachdenken oder schocken mit erfrischenden Vorschlägen. Selbstverständlich und unverzichtbar scheinen Schulbibliotheken in USA in den letzten 50 Jahren nicht geworden zu sein.

Für den Betrachter aus der Schulbibliothekswüste Deutschland sind es Klagen auf hohem Niveau: Mehrere Fachzeitschriften gibt es, eine lebendige, immer nützliche mailing list, viele überdurchschnittlich engagierte, kreative Schulbibliothekarinnen. Und nicht zuletzt eine Reihe von Professorinnen und Professoren, die wissenschaftlich über Schulbibliotheken arbeiten und von ihren Student/-innen eine ganze Menge verlangen, was über klassische Bibliothekarstätigkeit hinausgeht (Unterrichtsplanung mit den Fachlehrern, eigene Unterrichtspraxis, Umgang mit Internet und digitalen Medien, Leseförderaktivitäten). Diese pädagogische Wende gibt es allerdings erst wenige Jahre.

Dennoch wäre es ungeschickt, gegenüber informierten Entscheidungsträgern auf die US-Schulbibliotheken zu verweisen:

1. Das staatliche Schulwesen hat in den USA selbst und hierzulande keinen guten Ruf, siehe u. a. PISA. Deutsche Schüler haben, ohne flächendeckend vorhandene Schulbibliotheken, mehr PISA-Punkte. (Man kann allerhöchstens den Spieß umdrehen: Wie schlecht wären die amerikanischen erst, wenn sie keine gute Schulbibliothek gehabt hätten? ;-)

2. Gerade bei Schulbibliotheken wird jetzt drastisch gespart. Die Schulbibliotheksspezialisten, soweit sie weitergebildete Lehrer sind, werden im Fachunterricht eingesetzt.

Das laute Trommeln des Fachverbandes AASL, die Leserbriefkampagnen der Schulbibliothekare, der immer neue Nachweis der Forscher, wie sehr Schulbibliotheken bei den nationalen Tests helfen würden, alles scheint wenig zu nützen. Obama kürzt, Schulverwaltungsbeamte und Schulleiter sagen öffentlich, dass sie auf Schulbibliotheken auch verzichten könnten. In USA ist die sog. öffentliche Armut sehr sichtbar, an der Infrastruktur der Städte, am Zustand der Straßen und des Bahnwesens, am inneren und äußeren Zustand der staatlichen Schulen.

Das großherzige Engagement der US-Oberschicht und der Konzerne (Gates-Stiftung, Robin Hood in New York, der Reader´s Digest Verlag u.v.a.m.) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bund und Bundesstaaten unterfinanziert sind. Die Wohlhabenden werden steuerlich mit Samthandschuhen angefasst. In Kalifornien geht es besonders schlimm zu. Das Instrument des Volksbegehrens wurde dort so intensiv für Steuersenkungsbeschlüsse genutzt, dass der Staat inzwischen pleite ist.

Ausgerechnet in diesen Zeiten entdeckt der 100. Deutsche Bibliothekarstag die amerikanischen Schulbibliotheken und lässt gleich zweimal darüber referieren. Das Wichtigste scheint dabei gewesen zu sein, wie verbreitet in USA die Zusammenarbeit von öffentlicher Bibliothek und Schule wäre. Dbv-Bibliothekarinnen, die US-Schulbibliotheken besucht haben, staunen darüber, dass dort Unterricht stattfindet. (Siehe Dr. Karsten Schuldt)

Die Alte Welt muss sich wohl auf sich selbst besinnen. Vielleicht lese ich wieder einmal bei J.H. Basedow nach, warum er vor 250 Jahren Bibliotheken in allen Schulen forderte.

„Wir haben keine Ahnung, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft“

Dieses Graffito aus den frühen 80ern kommt mir in den Sinn, als ich die treffenden Anmerkungen von Karsten Schuldt zum Thema „Schulbibliotheken auf dem 100. Bibliothekskongress“ lese.

Gleich auf zwei Veranstaltungen haben Bibliothekare Bibliothekare über Schulbibliotheken in USA informiert. Die Anwesenden müssen viel Neues erfahren haben, wie Schuldt in seinem Blog konstatiert. Man konnte das schon im Tagebuch zweier in USA weilenden deutschen Bibliothekarinnen im November 2010 nachlesen (auf der Website des New Yorker Goethe-Instituts). Sie waren überrascht, wie stark die US-Schulbibliotheken auf Unterricht bezogen sind und erklären sich das mit der Herkunft der teacher-librarians aus dem Lehrerstand.

In den USA sind die Schulbibliotheken in den 80er Jahren zu school library media centers geworden, Einrichtungen, die vor allem eine Rolle im Unterricht spielen. Gut, dass sich das allmählich unter den Schulbibliotheksexperten in den deutschen Bibliotheksverbänden herumspricht. Schlecht, weil zwei Jahrzehnte verschlafen wurden. Jetzt wird das US-Schulbibliothekswesen arg gerupft.

Auch will man vom Vorgestern ins Übermorgen: Vermittlung von Informationskompetenz haben sich die Bibliotheksverbände aufs Panier geschrieben. Mit dem Schlachtruf „Rein in die Schule!“ (Titel einer Veranstaltung auf dem 99. Bibliothekstag) wird den Schülern und Lehrern die Vermittlung von Informationskompetenz durch Bibliothekare angetragen. Das oberflächliche Hantieren mit bildungsökonomischen Schlagwörtern (PISA, Kompetenz, Qualifikation, Literalität, Standards) suggeriert Vermittlungskompetenz. Dass es dabei nicht mehr um fachliche Inhalte, Wissenserwerb, geschweige denn Bildung geht, verursacht Pädagogen Unwohlsein. „Lernen ohne Inhalte“ moniert der Wiener Bildungsphilosoph Konrad Liessmann ist wie „Kochen ohne Zutaten“. Er hält nichts davon, dass man in Lehrgängen oder Modulen das Lernen lernen und sich Kompetenzen aneignen soll, mit denen man später einmal Wissen erwerben können soll.

Dr. Schuldt wundert sich, dass der 100. Bibliothekarstag nicht auf die in derselben Woche stattfindende Sitzung der Jury für den Preis der „Berliner Schulbibliothek des Jahres“ der AG der Schulbibliotheken in Berlin und Brandenburg (AGSBB) Bezug nimmt: „Offensichtlich existieren hier zwei Diskurse nebeneinander“ stellt er fest. (Siehe dazu mehr unter „Weiterlesen“!)

Es gibt auf pädagogischer Seite keine fundierte, breite Auseinandersetzung mit dem Thema Schulbibliotheken. „Das Thema bleibt den Interessenvertretungen des Bibliothekswesens überlassen“ lautet eine meiner Thesen in „Gibt es Schulbibliotheken in Deutschland?„. Schulbibliotheken werden bibliothekarisch definiert und gehören zur Einflusssphäre der bibliothekarischen Verbände. Nicht, dass deren Diskurs beeindruckt: Der Südtiroler Bibliotheksverband z. B. wollte von einem Schulbibliothekswesen anfänglich nichts wissen und war dagegen. In manchen Bibliotheksgesetzen stehen sie drin, in manchen nicht. Für „Schulbibliotheksexperten“ alter Schule ist die Zusammenarbeit der Schule mit der öB. der Kern des Themas.

Wenn in bibliotheksfachlichen Verlautbarungen von „Zusammenarbeit der Schulbibliothek mit der öffentlichen Bibliothek“ gesprochen wird oder eine Bibliothekarin gar Schulbibliotheken eine schulische Einrichtung nennt, wird das so erfreut zur Kenntnis genommen wie die Erlaubnis für saudi-arabische Frauen, ein Handy besitzen zu dürfen: Der Fortschritt wäre jetzt nicht mehr aufzuhalten.

Ein pädagogischer Diskurs schien die bibliothekarischen Interessenvertreter bisher eher zu irritieren. „Seit wann braucht es runde Tische, an denen David und Goliath nebeneinander sitzen?“ fragt man sich wohl.  Basedow1764 und seine mitstreitenden Lehrerkollegen sitzen zwischen den Stühlen. Auch mancher Lehrerkollege denkt, dass die Schulbibliotheksbefürworter unter den Lehrern eher verkappte Bibliothekare sind. Einer hat ihm das auch mal gesagt.

Kritischer Bemerkungen zu den getrennten Diskursen, wenn man sie nun doch einmal als solche bezeichnet, hat er sich in seinem Blog nicht enthalten. Noch zwei aktuelle Beispiele für nicht gelingende Diskurse gefällig? Weiterlesen