„Rechtsstaat“ DDR

So ganz kann ich vom DDR-Thema doch nicht lassen. Es gehört halt zu meinem Leben.

Politikerinnen und Politiker, die glauben, bei den Ostdeutschen zu punkten, wenn sie der DDR Rechtsstaaatlichkeit andichten, sollten nicht so viel reden, sondern lesen!

Die SED wollte nichts weniger als ein (bürgerlicher) Rechtsstaat sein. Im quasi naturgesetzlich vorgegegebenen Entwicklungsverlauf des Sozialismus sollte das Verbrechen ja aussterben. So lange man die Justiz noch brauchte, hätte sie die Aufgabe, den Sozialismus zu befördern und die Menschen entsprechend zu erziehen. Das ist bei der SED nachzulesen.

Sehr anschaulich wird der „Rechtsstaat“ DDR in einem Buch von Inga Markovits: Gerechtigkeit in Lüritz. Wie in der DDR das Recht funktionierte.

Markovits hat die Gerichtsakten einer mecklenburgischen mittelgroßen Stadt ausgewertet, die sie Lüritz nennt.

Justizberufe, mit Ausnahme der Rechtsanwälte waren unattraktiv. Woanders verdiente man mehr. Die Justiz war personell unterbesetzt. Deswegen musste gelegentlich auch die Gebäudereinigung von den Bediensteten übernommen werden.

Oft gingen die Streitigkeiten um Eigentum. Ein Begriff, von dem Markovits sagt, dass er für Marxisten so wichtig ist, wie für Christen die Sünde.

(Für überlastete Politiker/innen: Die 20 Seiten des Kapitels „Eigentum“ genügen schon.)

Natürlich hat Volkseigentum Vorrang. Wenn ein VEB den bei einer Privatperson  gemieteten Speicher durch unsachgemäße Lagerung ruiniert, hat der Besitzer schlechte Karten vor Gericht. Der Konsum zahlt seine Pacht für ein Hotel nicht, der Rat der Stadt lässt dennoch den Besitzer dazu verurteilen, das Haus zu renovieren. Da in 99% der Fälle Streitigkeiten zwischen Privatpersonen und Staatsbetrieben zugunsten letzterer endeten, verluderten laut Markovits auch die Sitten der Betriebsleitungen.

Die Landreform war eine Farce, weil die Betriebsfläche zu klein war. Bauern, die aufgaben, weil sie die ständig steigenden Ablieferungsquoten nicht erfüllen konnten oder ihre Frauen nicht 24 Stunden im Stall stehen wollten, konnten den Betrieb aber nicht wieder abgeben oder blieben im Grundbuch Eigentümer, auch wenn sie ihn loswurden,  und wurden von den LPGen und Banken noch jahrelang in Haftung genommen.

Der Umgang mit Volkseigentum war lax. 20000 Schwarzfahrten hatte die Stadt jährlich. Warum soll man für etwas bezahlen, was einem gehört? (Die Einstellung hat sich auf Gesamtberlin übertragen.)

Die Strafen für Entwendung von Volkseigentum wurden immer härter. Es gab Respekt vor persönlichem Eigentum, weniger aber vor Volkseigentum, dessen Entwendung, Beiseiteschaffung oder Unterschlagung auch für Durchschnittsbürger, nicht nur für Arme, keine Gewissensbisse verursachte. Gerade die Insider, die Dispatcher, die Aktivisten, die das System und die Verfahrensweisen kannten, zweigten bisweilen auch hohe fünfstellige und sogar sechsstellige Beträge oder Waren in diesem Wert aus Volkseigentum ab.

Nicht bei Frau Markovits, aber in anderen Untersuchungen, ist zu lesen, wie die SED mit Hilfe der Justiz zu fingierten Urteilen kam, mit denen selbstständige Handwerksmeister und Hausbesitzer wegen Betruges oder Steuerhinterziehung ins Zuchthaus eingeliefert werden konnten.

Frau Markovits kommt zu einem bemerkenswerten Befund: Während die Ideologen die Grenzen zwischen mein, dein und unser aufweichen wollten und auch die Rechtsprechung dazu instrumentalisierten, drehen sich die meisten Zivilklagen um kleinbürgerliches Eigentum, Gärten, Garagen, Möbel, Autos. Je weniger Besitz die Menschen haben, desto verbissener wird um diesen Rest an Individualität und Besitz gestritten. Das besitzbürgerliche Denken nimmt im Lauf der Jahre zu, nicht ab.

Das Buch gibt es auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Der Untertitel heißt dann anders: Gerechtigkeit in Lüritz.  Eine ostdeutsche Rechtsgeschichte.

Ich frage mich, wie der Sozialkundeunterricht der westdeutschen Politiker/innen gewesen sein muss, die die Rechtsstaatlichkeit der DDR verteidigen. Nie was gehört von Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz, Verwaltungsgerichtsbarkeit?

In zahlreichen Ausstellungen kann man (meist illegale) Mitschnitte von Verhandlungen im „Rechtsstaat DDR“ hören. Man glaubt immer, Freisler zu hören. Der war Kommunist, bevor er Nationalsozialist wurde.

Update 23.08.2009: Der postkommunistische Justizminister Brandenburgs mag die DDR nicht Unrechtsstaat nennen. Das Wort „Diktatur“ kommt schon gar nicht über seine Lippen. Er organisiert eine Tagung, in der er Referenten aufbietet, die finden, dass auch die USA und die Schweiz keine Rechtsstaaten sind. Anstelle der Tagungskosten hätte er Brandenburgs Schulen das Markovits-Buch zugänglich machen sollen.

3 Gedanken zu „„Rechtsstaat“ DDR

  1. Pingback: „Nicht-Rechtsstaat DDR“ – Furchtbare Juristen am Werk? « Basedow1764's Weblog

  2. Pingback: Rechtsstaat DDR. Rechtsstaat Hitlerdeutschland « Ampelmännchen und Todesschüsse

  3. basedow1764 Autor

    Ich finde gerade diese Thesen von Dr. Helmut Müller-Enbergs, Historiker bei der Birthler-Behörde, auf der Website der brandenburgischen Landeszentrale für politische Bildung:

    1.
    Nach zwanzig Jahren lässt sich feststellen: Die Integration ostdeutscher Eliten, Kader und Funktionäre von Parteien und Blockparteien in die Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ist gelungen. Die Demokratie zeigte sich damit in der Lage, die Kinder der SED-Diktatur zu absorbieren ohne sich selbst ihrem Wesen nach verändert zu haben. Was nach 1945 gelang, gelang auch nach 1990. Die juristische Aufarbeitung war in beiden Fällen tendenziell symbolisch und befriedigte weder nach 1945 die antinazistisch, noch die nach 1990 antikommunistisch Gestimmten.

    2.
    Die Aufarbeitung ist also primär eine gesellschaftliche und historische. Das Augenmerk fokussiert sich hier aber auf die überschaubare Gruppe der hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS und die IM, anstatt auf die nur sekundär beachtete sowjetische Führungsmacht, die SED und die sie sekundierenden Blockparteien und gesellschaftlichen Organisationen. Zwar ist dies eine auf Grund der Bedeutung des MfS nachvollziehbare Entwicklung, aber doch eine unzulässige Engführung, die auch den Charme hat, die unter 1.) genannte Integration von Funktionsträgern zu ermöglichen.

    3.
    Insgesamt lässt sich, mit dem Blick auf Funktionselite und Institutionen, von einem poltischen Desinteresse an der umfassenden Aufarbeitung der SED-Diktatur im Land Brandenburg sprechen.

    ….

    (aus einem Papier zu einer Veranstaltung zum Thema „Aufarbeitung oder Versöhnung“)

    Dem lässt sich nur schwer widersprechen. Allenfalls dem letzten Satz der dritten These. Sicherlich war die Aufarbeitung in Brandenburg wie Müller-Engbergs einmal gesagt hat, „eine Komödie“, aber anderswo, auch im Westen der Republik, gibt es auch kein ausgeprägtes Interesse.
    Der komplette Aufsatz Müller-Enbergs´ „Das Schweigekartell“ zur Aufarbeitung in Brandenburg hier! Darin stellt er dem Land Brandenburg ein vernichtendes Zeugnis in Sachen Aufarbeitung aus.

    Antwort

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..