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Dissertation von Helen Boelens online

The evolving role of the school library and information centre in education in digital Europe (pdf, 2,7 mb)

Kernstück ist das Kapitel 20 (pp 125 -147), in dem sie beschreibt, was sie im Kalsbeek College in den Jahren 1997 – 2008 aufgebaut hat: Ein Informationszentrum in dem konsequent in allen Jahrgangsstufen nach der KILM, der Kalsbeek Information Literacy Matrix, gelernt wird. (2008 im Basedow1764 vorgestellt)

In den fast 600 Seiten wird erörtert, ob das Modell, das sie in Kalsbeek erfolgreich praktiziert, auf Schulbibliotheken in Europa übertragen werden kann.

Dabei geht sie sehr gründlich vor. Sie setzt sich mit dem Einzug der ICT in den Schulen seit 1960 auseinander und der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zu veränderten Lernformen. Die Sichtung der Literatur in beiden Bereichen ist umfassend. Sie beginnt mit der niederländischen Forschung und referiert dann die internationale.

Einen Nachweis, dass ICT zur Verbesserung des Lernens und höheren Schülerleistungen beigetragen hat, kann auch sie nicht führen. Ausgaben für und Ausstattung mit Computern stehen in keinem messbaren Zusammenhang mit den Ergebnissen internationaler Schulleistungsstudien (p. 219). Sie verschweigt nicht, dass es in den Niederlanden Kritik an der Überbewertung des Lernens mit digitalen Medien gibt und zitiert einen versöhnlichen Satz: „Research in the Netherlands indicates that if teaching and learning is to be effective, it needs to be ‘in balance’ – a combination of traditional plus new forms of teaching and learning (p 67f).

Eine schier unglaubliche Leistung versteckt sie im Anhang: Dr. Boelens hat Daten von 61 europäischen Staaten (darunter alle GUS-Staaten, aber auch Malta, Zypern und Monaco) zusammengetragen und schafft so die erste Gesamtschau des europäischen Schulbibliothekswesens. Für die Zusammenarbeit in ENSIL, dem europäischen Schulbibliotheksverbund. eine großartige Datenbank.

Auch wenn es wenig verlässliche Daten über die Zahl der Schulbibliotheken und das, was man darunter versteht, gibt. Es ist ein erster Rahmen geschaffen, eine Matrix, die nach und nach präziser  werden kann. Man erfährt von Schulbibliotheken in Staaten, wo man es bisher nicht wusste. (Karsten Schuldt wird sich bestätigt sehen. Er konnte keinen Zusammenhang zwischen gutem PISA-Ranking und vielen Schulbibliotheken erkennen.) Die Datenlage zu Schulbibliotheken bei den internationalen Schulleistungstests, das ist bekannt, ist unbefriedigend. Warum Dr. Boelens die PIRLS-Ergebnisse deutscher Schüler/-innen als schwach sieht (immerhin Platz 6 von 30), verstehe ich nicht.

Der Deutschland-Abschnitt (p 317 f) liefert für den fachkundigen Leser nichts Neues. Das war ja auch nicht die Aufgabe.

Die Zahl der Schulen ist viel zu hoch. (Die Grundschulen sind noch gar nicht mitgezählt). Es ist der Wert, der in bibliothekarischen Kreisen gerne verwendet wird – Guckt denn keiner einmal ins Statistische Jahrbuch? – und die berühmten 15% gibt es auch. Warum Helen Boelens so intensiv nach DDR-Schulbibliotheken fragt, erschließt sich mir nicht. Sie setzt einen neuen DDR-Mythos in die Welt: Möglicherweise habe es an jeder Schule eine Schulbibliothek gegeben. (Sie wurden Anfang der 70er Jahre, so weit es sie gab, aufgelöst. Meinen Befragungen von DDR-Lehrern und deren negativen Antworten traute sie wohl nicht. Es gibt außerdem ein untrügliches Indiz: Wenn es sie bis 1989 gegeben hätte, würde man im Osten darüber reden, wie über alles, was in der DDR – angeblich – gut war.)

Amüsant am Rande: Sie wundert sich, dass ein ehemaliger Schulbibliotheksexperte des dbv, den sie interviewt, ein Bibliotheksdirektor, immer von der öffentlichen Bibliothek spricht, wenn sie ihn zum Thema Schulbibliotheken befragt.

Die Forscherin erkennt: „Das Thema Schulbibliotheken in Deutschland ist ein schwieriges Thema.

Für Deutschland ist das, was Helen Boelens erörtert, Lichtjahre entfernt, von Ausnahmen abgesehen. Solange Bibliothekarinnen noch überrascht sind, dass man in Schulbibliotheken Unterricht macht, in Schulbibliotheken eine Konkurrenz sehen, oder die Kooperation der Schule mit der öffentlichen Bibliothek das Hauptanliegen ist, wird sich das nicht ändern.