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Die pädagogische Wende in der Information Literacy

Der einfallsreiche Pädagogikprofessor Jürgen Henningsen schrieb altertümelnd von „beybringen“, wenn es um Lernen und Lehren ging. Er wollte, dass man an dem Wort hängen bliebe. Meinen Kindern wurde in der Schule nie beygebracht, wie man ein Referat anfertigt. Sie mussten es immer nur mit Mamas oder Papas Hilfe abliefern und erhielten eine Note dafür.

Das „Klett-Sprachbuch“, das in den 70ern erschien, war das erste Sprachbuch, das in kleinen Schritten das Referatschreiben trainierte. Ich habe es geliebt, und noch lange, nachdem es aus dem LMF-Magazin verschwunden war, mit Fotokopien des Referatkapitels gearbeitet. (Ist ja wohl heute verjährt?)

Mir scheint, dass Information Literacy (IL) – the ability to access, evaluate and use infor­mation – eine Weiterentwicklung und Vertiefung des 70er-Jahre-Ansatzes ist. Damals hieß das Arbeitstechniken, skills, Mikromethoden oder Lesetechniken. Das Internet war noch eine ziemlich geheime Angelegenheit.

Die IL, die Recherchekompetenz, scheint aus dem (Deutsch-)unterricht der Schulen ausgelagert zu werden. Weltweit sind es Bibliothekswis­sen­­schaft­ler/in­nen – sie nennen sich jetzt Informationswissenschaftler/innen -, die sich Sorgen machen um die Recherchekompetenz der Schülerinnen und Schüler, der Lehrerinnen und Lehrer, insbesondere des akademischen Nachwuchses.

Natürlich sorgen sie sich auch um ihre Arbeitsplätze, da die Trendforscher und die Universitätspräsidenten sich seit 30 Jahren fragen, ob eine reale Bibliothek im digitalen Zeitalter noch nötig wäre und die Google-Generation sich von den komplexen Bibliotheks-OPACs fernhält.

Nach Deutschland schwappte der IL-Hype zuletzt im Rahmen der „Bildungspartnerschaft Bibliothek und Schule“ über. IL sollten die Schulklassen in der Stadtbibliothek lernen. Zwei Bibliotheksbesuche in der S I empfehlen manche Bundesländer. Stadtbibliotheka­rin­nen sehen die neueste Strategie ihrer Funktionäre und deren Unternehmensberater zurückhaltend, schaffen sie es angesichts der Personalknapp­heit und schrumpfender Anschaffungsetats doch kaum, ihre anderen Kunden mit Lektüre zu versorgen.

Den Lehrern konnte es egal sein. Sagten sie früher zu meiner Tochter „Das Referate schreiben hast du doch in der 7. gelernt“ oder „Das lernst du noch in der 9.“, könnten sie jetzt schimpfen: „Du warst wohl noch nicht in der Stadtbibliothek. Dein Referat entspricht weder den Bildungsstandards für das 9. Schuljahr Gymnasium noch dem Kooperationsvertrag unserer Schule mit der Stadtbibliothek, § 7, Fußnote 6.“

Die Gefahr, dass die Schülerinnen und Schüler zu kleinen Bibliothekaren ausgebildet werden, ist aber vorüber: Auf der IASL-Schulbibliothekskonferenz 2006 in Lissabon erklärten Ross Todd und Carol Kuhltau, wie sie IL verstehen. Sie nennen es  Guided Inquiry. Carol Kuhltau betont, dass forschendes Lernen mehr sei als Sammeln von Informationen. Ich nenne das die pädagogische Wende der IL.

Sehen wir darüber hinweg, dass in der Schulpädagogik schon seit 40 Jahren von  entdeckendem, forschenden oder offenem Lernen gesprochen wird.

Ich fühlte mich an meine Referendarzeit erinnert. (Ich habe das hier schon früher einmal im Weblog benannt und hier mein Lissabon-Bericht dazu.) Es sind die Fragen der klassischen Großen Unterrichtsvorbereitung, denen sich auch die Informationsspezialisten, die Schulbibliothekare, stellen sollen:

Was sollen die Schüler am Ende einer Unterrichtseinheit gelernt haben?

Was bringen sie an Vorwissen mit?

Wie sollen sie es lernen?

Wo könnte es Knackpunkte geben?

Wie können diese mit Hilfe des Lehrers überwunden werden?

 

Todds und Kuhltaus Guided Inquiriy ist das A und O in der europäischen Schulbibliothekszene geworden. ENSIL bemüht sich, mit EU-Geldern einen Studiengang aufzubauen, der Schulbibliothekare für diese pädagogische Arbeit mit Fachlehrern und Schulklassen qualifiziert.

Wie das in der Praxis aussieht, zeigt die private Gill St. Bernards School in NewJersey/USA, eine K-12-Schule, also vom Kindergarten bis zum Abitur gehend. An dieser Schule wird eine einzigartige Zusammenarbeit von Bibliothekar und Fachlehrer praktiziert:

Students at Gill St. Bernards are introduced to guided inquiry as soon as they enter either the middle or upper school (8. Schulj.). It´s the job of Ginny Kowalski, the research librarian (!), to guide younger students along the path to information literacy. I meet seventh and eighth graders twice a week for 45 minutes throughout the year, she says. We teach them all the research skills, and I expose them to various databases as well as paper materials. Es ist üblich, dass sich die Bibliothekarin mehrere Stunden nur einer Schülerin oder einem Schüler widmet.

A series of two-month research projects, three for seventh graders, four for eight, hallows students to practice what Kowalski has preached. The projects are tied to the schools various curricula. Working in concert with history, English, and science teachers, this year she will help seventh graders create a mock ancient Greek newspaper, dip into mythology, and prepare a pamphlet on world diseases.

Eighth graders follow a similar path. This year they will examine immigration issues and landmark U.S. Supreme Court decisions, and let whatever language they are studying guide their choice of a topic in art history.

Kowalski wants to design a fourth project around databases. Thats a good use of their research skills, she says. Students will be able to use databases pretty professionally when theyre through. The research projects become more sophisticated as the students climb the academic ladder.

Kuhltau und Todd gehen in dieser Schule ein und aus. Sie bringen ihren Studenten bei, dass sie im Lern- und Rechercheprozess an der richtigen Stelle intervenieren müssen. Das setzt voraus, dass sie wissen wie Kinder und Jugendliche lernen:

We do have a feel for how the child learns, Kowalski adds. You experience that through their writing assignments, how they configure them. Then theres feedback from the teachers and observation through the years. A lengthy intake interview with each student provides still more evidence.

Students welcome the librarians diagnostic approach. Mrs. Schmidt, she knows us, says Puglisi, now a senior. I dont know if there are very many librarians who know exactly what goes on in a kids mind.

Zum Training gehört auch, dass Neuntklässler ihr Referat vor Siebtklässlern halten. Am Ende, in der 12 sind die Schülerinnen und Schüler in der Lage Essays zu schreiben, die ein Student nicht besser verfassen könnte. Zu ihrem Lernprozess müssen die Schüler schriftlich Stellung nehmen.

Am Ende erhalten die Schüler eine Note. 50% davon sind vom Fachlehrer für den Inhalt, 50% von der Bibliothekarin für den Rechercheprozess des Schülers oder der Schülerin.

Ja, wenn das so ist. Wenn die Schulbibliothek eine Rolle im Lernprozess spielte, wenn der Schulbibliothekar eine aktive Rolle in diesem Lernprozess einnähme, diesen Lernprozess mit steuern würde …

Der Text basiert auf einem Bericht in School Library Journal, gefunden habe ich ihn hier. Die unübersetzten Teile sind Zitate.

Hessens Schulen haben übrigens einen Anfang gemacht, für diese Art zu lernen:  Hauptschüler müssen im Rahmen ihrer Abschlussprüfung eine Gruppenarbeit präsentieren.  Die Recherche, das Erarbeiten und meist auch die Präsentation finden in vielen Schulen inzwischen in der Bibliothek statt und arbeiten dort eine Woche ununterbrochen. (Ich frage mich, wie Schulen ohne Bibliothek das überhaupt hinkriegen.)  Für die Betreuung werden Fachlehrer, überwiegend aber die Klassenlehrer, freigestellt.

Die Qualität der Zusammenarbeit in der Gruppe wird benotet (Manche Schüler konnten mit diesem Teil der Benotung überhaupt nichts anfangen. Das liegt wohl daran, dass solche Lernverfahren in den neun Hauptschuljahren oft zum ersten Mal bei der Prüfungsvorbereitung praktiziert wurden.)

Dieses pädagogische Verständnis von Schulbibliothek propagiert die LAG: Schulbibliothek und Schulbibliothekar/in sind Teil des schulischen Lernprozesses.

Auf den Boden der Tatsachen holt einen dann ein Satz aus der Studie
zur Lesekompetenz des BMBF zurück (Förderung der Lesekompetenz, Band 17 der
Reihe Bildungsreform, 2005, Bestell-Nr. 30157):

"Ein Spezifikum von Schulbibliotheken ist darüber hinaus darin zu
sehen, dass die Möglichkeiten der Bibliothek auch im Unterricht genutzt
werden können."
 (Kapitel 3.3, pp 87/88; Immerhin nicht als Fußnote, sondern im Text.)
Das heißt ja, dass die Bibliothek beim Lesenlernen (Darum geht es in
der Studie) nur eine ephemere Rolle spielt und keinesfalls als Lernort gesehen wird.  

Immerhin wird in der Studie zur Lesekompetenz aus dem Jahre 2005 die
Schulbibliothek überhaupt erwähnt!

Siehe auch in diesem Weblog: „Ist information literacy die Lösung?