Der Berliner Bibliothekswissenschaftler Karsten Schuldt will ein Seminar für angehende Bibliothekare zum Thema „Schulbibliotheken“ halten. Er fragt in der Mailingliste „Schulbibliotheken“ des dbv nach Vorschlägen für den Inhalt.
Leider habe ich die Ursprungsmail von Dr. Schuldt nicht in meiner Mailbox gefunden, obwohl ich Abonnent der dbv-Liste bin. In einer abschließenden Mail schließt er aus den Vorschlägen, die er bekommt, dass den Bibliothekarinnen vor allem am Herzen läge, wenn den Lehrern beigebracht werden würde, wie sie Schulbibliotheken nutzen sollten. Dazu müssten in der Lehrerfortbildung entsprechende Seminare stattfinden.
Schuldt weist die verengte bibliotheksfachliche Sichtweise auf Schulbibliotheken zurück. Auch die Berufung auf den fragwürdigen Lesekompetenzbegriff von PISA. (Man könnte noch ergänzen: Mehrere Bundesländer haben ihre PISA-Lesekompetenzwerte ganz ohne Schulbibliotheken verbessert. Finnland ist Sieger ohne ein nennenswertes Schulbibliothekswesen zu haben. Und: Wenn man die begrenzte Lesekompetenz der PISA-Industrie zu Grunde legt, was hat das dann mit „klassischer“ Leseförderung zu tun?
Um es als Lehrer ganz deutlich zu sagen: Ich brauche, um Lesekompetenz zu erreichen, keine Schulbibliothek. Wenn eine vorhanden ist, schadet das nicht, sie hat sicherlich sogar einen positiven Effekt. Aber auch dann nicht bloß, weil sie da ist! Bei dem Schüler, der zu Hause kurdisch redet, mit dem Türkischlehrer türkisch und nur vormittags in der Schule deutsch – soweit es den Schulleitern erlaubt ist, darauf zu bestehen – hilft mir eine Schulbibliothek nur begrenzt.)
Ich drehe die Frage „Was sollen Lehrer über Schulbibliotheken wissen“ einmal um: „Was sollen Bibliothekare über Schulbibliotheken wissen?
Mit diesem Reframing tritt ein wesentlicher Faktor für die Rückständigkeit des deutschen Schulbibliothekswesens deutlicher hervor:
Schulbibliotheken werden rein bibliothekarisch definiert und gehören zur Einflusssphäre der bibliothekarischen Verbände.
Die Politik spielt dankbar mit. Die Öffentlichkeit kennt keine Alternativen. Exemplarisch erlebe ich das gerade wieder in Berlin-Brandenburg: Eine Bibliotheksleiterin sagt: „Schulbibliotheken? Die erreichen doch nicht die Qualitätsstandards der Stadtbibliothek. Die Lehrer sollen doch erstmal die Bücherkisten der Stadtbibliothek ausleihen!“ Der Ministerpräsident lässt schreiben: „Die Schulen sollen mit den öffentlichen Bibliotheken zusammenarbeiten. Wir haben extra eine Kooperationsvereinbarung mit dem dbv geschlossen.“ Das Ministerium weist daraufhin, dass die Schüler mehrmals die öffentliche Bibliothek besuchen müssten. Und ist sich sicher, dass dabei kein Unterrichtsausfall entstünde! Eine Bezirkselternvertreterin sagt, dass zuerst einmal die öffentlichen Bibliotheken gefördert werden müssten. Der Landeselternrat ist verwundert, dass er wg. Schulbibliotheken überhaupt angeschrieben wurde.
In Hessen, wo der dbv-Vorsitzende praktischerweise Landtagsabgeordneter ist, werden Anfragen an die Regierung gestellt mit der Überschrift „Schulbibliothek“. Gefragt wird aber nach Zusammenarbeit von Schulen mit öffentlichen Bibliotheken. Das Kultusministerium möge doch berichten. Und die Suggestivfrage, ob nicht IMeNS ein tolles Beispiel für die Kooperation wäre? IMeNS ist ein Beleg für meine These. Die Eigenwerbung lautet: „Die bibliothekarische Lösung für die Schulen“. Eben. Sogar die von IMeNS selbst in Auftrag gegebene Evaluation kommt zu dem Schluss, dass in den Schulen die Segnungen des Projekts (u. a. das Munzinger-Archiv auf dem Kreisserver) auch nach Jahren des medialen Feuerwerks nicht erkannt werden.
Der Landesrechnungshof wurde von der LAG beraten, damit er die Schulbibliotheken nicht länger an der Zahl der Ausleihen misst, wie er das von den öffentlichen kennt.
Die LAG ist wegen der anstehenden Beratungen zur Schulgesetznovelle und zu einem Bibliotheksgesetz dabei, der Politik zu erklären, dass Schulbibliotheken eine pädagogische Einrichtung sind. Schule, also Schüler, Lehrer, Schulaufsicht, Schulverwaltung, Schulpolitik, darf sich nicht von bibliothekarischen Verbänden vorschreiben lassen, was Schulbibliotheken sind („Sonderform“ der öB) und wie man sie nutzt („Spiralcurriculum“).
Niemand will den Bibliothekaren das Thema Schulbibliothek wegnehmen. Sie werden in vielerlei Hinsicht gebraucht. (Die LAG hat schon sehr früh in jedem Landkreis eine Dipl. Bibliothekarin gefordert, die damaligen Mitstreiter aus einer öffentlichen Bibliothek haben die Forderung mehr als verdoppelt, 60 statt 30. Beides war letztlich unrealistisch.)
Schulpolitik und Schulverwaltung müssen den Bibliothekaren aber sagen, was sie haben wollen und nicht nehmen, was sie kriegen.
Die Schulbibliothek kann ihre Möglichkeiten als pädagogische Werkstatt für Veränderung von Unterricht und Verbesserung der Schulqualität – Individualisierung – fächerübergreifendes Lernen – Arbeitstechniken lernen – Informations- und Medienkompetenz erwerben usw. nur dann entfalten, wenn sie in die schulischen Institutionen, Gremien und Curricula integriert ist und tagtäglich genutzt werden kann.
Die LAG war deswegen vergleichsweise „erfolgreich“, weil es eine bescheidene Institutionalisierung im Schulwesen gegeben hat: Ein Schulbibliotheksreferent im KM, „Arbeitsbereich Schulbibliotheken“ im Lehrerfortbildungsinstitut, daraus wurde auf Landesebene der „Fachberater Schulbibliotheken“, daraus wurde das „Projektbüro Schulbibliotheken“. Vorher gab es noch vorübergehend eine mobile Beratung im Kulturmobil.
Dann gibt es noch die „Servicestelle EDV für Schulbibliotheken“, alles im Geschäftsbereich des Kultusministeriums.
In Rheinland-Pfalz gibt es eine zentrale Kommission, paritätisch von Schul- und Bibliothekarsseite besetzt, unter Vorsitz eines Lehrers. Im hessischen „Forum Schulbibliothek“, das mit dem Kooperationsvertrag auf Wunsch des dbv entstanden war, sitzen seit fünf Jahren mehrmals jährlich ein bis zwei LAG-Vertreter mit sechs, sieben dbv-Vertretern zusammen. Der hessische dbv-Vorsitzende hat den Eindruck gewonnen, dass kaum getagt worden wäre und verlangte von der Landesregierung, den Vertrag mit Leben zu erfüllen.
Zwei Anmerkungen noch: Weiterlesen →