Hessen erklärt Status Quo zur Reform: Mittelstufenschule

Man freute sich darauf, endlich einmal etwas von der hessischen Kultusministerin zu hören. Zu früh gefreut, Chefsache, der Ministerpräsident trat vors Mikrofon. Er verkündete die „Mittelstufenschule“:

In Klasse 5 werden Haupt- und Realschüler gemeinsam unterrichtet,  in Klasse 6 gibt es im Klassenverband Leistungsdiffenzierung, ab Klasse 8  werden sie in H- und R-Klassen getrennt. Die Hauptschüler werden noch intensiver als bisher auf die Berufsausbildung vorbereitet.

Förderstufe? Nie gehört!

Der Hessische Rundfunk widmete am Freitag dieser Schulreform light viel Sendezeit. Was mich wunderte: Weder die Moderatoren noch die Anrufer erwähnten, dass man in Hessen vor vierzig Jahren schon weiter war. In den 70er und 80er Jahren ging fast die Hälfte der Fünft- und Sechstklässler in die Förderstufe, eine integrierte Jahrgangsstufe 5/6. Sie umfasste Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten. Die wurden, das sei zugegeben, in einem nicht ganz unkomplizierten System nach Fachleistung in Englisch und Mathematik differenziert, in den anderen Fächern gemeinsam unterrichtet. Dort sollte „innere Differenzierung“ stattfinden. Das können Grundschullehrer/innen, nicht aber Sekundarstufenlehrer.

Den Mut, eine Grundschule 1-6 zu machen, hatten die Sozialdemokraten nicht. Ein früherer  SPD-Kultusminister bedauert, dass man gleich nach dem Krieg nicht auf die Amerikaner gehört hatte, die das befürworteten.

Der Kulturkampf, der damals ausbrach, ist gerade in Hamburg wieder zu erleben. Unvergesslich, wie an meinem Schulstandort Damen im Nerz auf dem Marktplatz Flugblätter gegen die Förderstufe verteilten. Die Junge Union sah den Sozialismus kurz vor der Machtergreifung, der Pfarrer von Fischbach redete von Teufelszeug. (Ich übertreibe nicht!) Das war in den 70ern.

Die Förderstufe gibt es kaum noch. Sie wurde administrativ liquidiert.  In den wieder dreigliedrigen Klassen 5 und 6 begann ein Verschiebebahnhof zwischen H, R und Gym, gegen den die Auf- und Abstufung in den Förderstufen-Fachleistungskursen nachträglich als Kinderspiel erscheint.

Die Hauptschule ist ein totes Pferd, nur darf niemand absteigen.

Gerade einmal 4 selbstständige Hauptschulen unter den ca. 600 hessischen Sekundarstufenschulen gibt es noch. Auch selbstständige Realschulen gibt es nur wenige. (Eine versucht gerade, mit der „ersten und einzigen internationalen Schulbibliothek“ Deutschlands ihr Profil zu schärfen.) Was es gibt, sind kombinierte H/R-Schulen mit gemeinsamer Leitung und gemeinsamem Kollegium. Oder Kooperative Gesamtschulen (KGS), in denen H/R/G organisatorisch unter einem Dach vereint sind.

Am Beispiel einer KGS lässt sich zeigen, dass die neue „Mittelstufenschule ein ziemlich alter Hut ist.

Das tote Pferd kriegt einen neuen Namen.

Nach den Sommerferien sind 62 Gymnasiaten angemeldet, 33 Realschüler und 5 Hauptschüler. In den Ballungsgebieten geht der Gymnasistenanteil auf 70 und mehr Prozent! Eine Klasse mit 5 Hauptschülern zu bilden, erlauben die Richtlinien nun wirklich nicht. Klassen mit 10 oder 11 Schülern gab es aber schon. Man weiß ja: Spätestens ab Klasse 7 gibt es genügend Sitzenbleiber, die es erlauben, eine H 7 aufzumachen.

Schulleitungen sind dazu da, den Laden am Laufen zu halten. Da wären in Hessen Zulagen oder mindestens Orden fällig. Niemand will gegenüber dem Schulamt als Versager dastehen.

Also steckt man die 5 Hauptschüler in die Realschule und kann dort sogar zwei kleine Klassen aufmachen.  Nun hat man das Problem, den Realschuleltern zu verkaufen, dass in der Klasse Hauptschüler sind. Das erfragen die schon vor den Sommerferien und melden ihre Kinder dann woanders an. Oder spätestens im Folgejahr das Geschwisterkind. Also schildert man die Kombi-HR-Klasse in den schönsten Farben: Wollen Sie lieber eine „reine“ R-Klasse mit 33 oder eine mit 18, von denen 3 Hauptschüler sind?

Als Sahnehäubchen gibt es eine Stunde Mathe mehr für alle und einen Deutschzusatz am Mittwoch in der 7. Stunde für die 5 Hauptschüler aus beiden Klassen.

Am Ende des Schuljahres kann es passieren, dass zwei der ursprünglichen Hauptschüler auf R-Niveau stehen, aber drei ursprüngliche R-Schüler jetzt die H-Einstufung haben. Es fiel nicht weiter auf, weil damit kein Klassenwechsel verbunden war und auch die Eltern keinen Imageverlust in der Nachbarschaft erlitten. Das wurde aber nicht thematisiert, denn es erinnerte an die ungeliebte „Zwangs“- Förderstufe.

Der Lehrerverbrauch ist so natürlich höher. Deswegen dachten Schulämter auch darüber nach, die Hauptschüler aus nicht allzuweit voneinander entfernten Gesamtschulen in einer gemeinsamen H-Klasse zusammen zu legen.

Um die Klassen möglichst schnell wieder dreigliedrig zu machen, wurden im Lauf der Jahre die Vorschriften rigider (Zwangssitzenbleiben statt Empfehlung).

Ab Klasse 7  kam dann etwas Ruhe ins System. Es gab zwei starke G-Klassen, eine randvolle R-Klasse und eine H-Klasse mit 13 oder 17 Schülern.  Von denen konnte man in Klasse 8 die 3 Lernschwächsten in die Kreis-SchuB-Klasse anmelden. In diesen „Schule und Beruf“ genannten Klassen wurden die Schüler in Kleingruppen von einem Lehrerteam und mit viel praktischem und berufsbezogenem Unterricht betreut. Damit stiegen die Chancen, den einfachen, den erweiterten oder den qualifizierenden Hauptschulabschluss zu bestehen.

Man reitet weiterhin das tote Pferd, Sattel und Decke sind aber neu.

Eine Folge der „Reform“ wird sein, dass die Mittelstufenschule den verbliebenen, ungeliebten KGS den Garaus machen wird. Diese, auf dem halben Weg zur IGS stehen gebliebenen Schulen mit H/R/Gym-Klassen sind ein Auslaufmodell. Einigen wenigen ist es gelungen, sich zur IGS weiterzuentwickeln. Einige wurden wieder in H/R-Schule und Gymnasium getrennt. (Ich kenne  zwei Fälle, in denen die Schulbibliothek im Gymnasialgebäude war und von H/R-Schülern nicht mehr genutzt werden konnte. Manchmal wird auch der Schulhof wieder geteilt.) Aber so schlimm wie in den 50er Jahren (evangelisches Jungenklo usw.) ist es nicht mehr.

2 Gedanken zu „Hessen erklärt Status Quo zur Reform: Mittelstufenschule

  1. Pingback: Hessen schafft die Hauptschule ab. Doch, wirklich, endgültig! | Basedow1764's Weblog

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