Als ich vor einiger Zeit auf einer e-learning-Tagung über Schulbibliotheken referieren durfte, wurde ich eingeführt mit der Frage:
„Ist die Schulbibliothek im digitalen Zeitalter nicht überflüssig geworden?“
Ich weiß nicht, ob ich die Fachleute für blended learning, virtual life und web2.0 restlos von der Notwendigkeit einer Schulbibliothek im digitalen Zeitalter überzeugen konnte.
Man sollte konsequent sein und diese Frage erweitern: Wenn das Internet alles bietet, was früher in Schulen und Bibliotheken gelagert und gelernt wurde und das in Echtzeit, in Farbe, animiert und nutzerorientiert, könnte man doch gleich die Schulen abschaffen. Warum wird diese Frage, oft begleitet von einem malizösen Lächeln, immer nur bei Schulbibliotheken gestellt?
In den 80er Jahren, in der Frühphase des Internets, war man in USA nahezu einhellig der Meinung, man brauche jetzt keine Universitätsbibliotheken mehr, jedenfalls keine Neubauten. Inzwischen hat sich die Internettechnologie weiter entwickelt. Es gibt Laptops, Netbooks, Google Scholar, wisdom of the crowds und iPhones.
Schule und Bibliothek können jetzt an den Strand, in die S-Bahn, ins Kinderzimmer mitgenommen. Inzwischen werden aber wieder Universitätsbibliotheken gebaut!
Warum ist das so?
Ivan Illich hat in den 70er Jahren die Abschaffung der herkömmlichen Schule gefordert. Er wollte die Entschulung der Gesellschaft, stattdessen aber eine pädagogisch orientierte lernende Gesellschaft.
Für Illich war ein Referenzservice (so hat er das genannt) für alle Dinge, die mit formalem Lernen zu tun hatten, wichtig: Bibliotheken, Theater, Labore, Veranstaltungsräume mit entsprechenden Medien (Tafel, Video, PC – nach dem Stand der 70er Jahre).
Wenn man das Gebäude der Bielefelder Laborschule betritt, sieht man, dass die Lerngruppen auf offenen Plattformen, den „Flächen“ arbeiten und nicht in geschlossenen, rechteckigen Klassenzimmern sitzen.
Wie soll man solche Räume in der Schule nennen? Schulbibliothek, school library media center, Mediothek, centre de documentation et d´information? Das sind Zungenbrecher, sie konnotieren entweder Bücher oder neue Medien, ihre Abkürzungen klingen wie Güterverkehrszentrum (GVZ). Es geht aber nicht um Büchermagazine, Computerräume oder Ausleihtheken. Es geht um Lernräume und Lernprozesse.
In der angelsächsischen Welt gibt es jetzt einen neuen Begriff dafür: learning commons.
Da steckt der Allmende-Begriff drinnen: Das mittelalterliche Gemeineigentum am Gewässer, am Wald und der Weide.
Die Learning commons sind eine Wissensallmende.
Learning commons beinhalten eine Vielzahl von Räumen: Begegnungsraum, Funktionsräume, Kommunikationsflächen, Stillarbeits-, Einzelarbeits-, Gruppenarbeitsraum, Plenum. Hell, offen, einladend, korrespondierend zur Form der Arbeit. Sie ermöglichen eine Vielzahl von Sozial- und Arbeitsformen. In ihnen wirken Menschen, die nicht nur Lernprozesse moderieren, sondern Schüler/inne/n etwas beibringen.
z. B. Vanier College, Montreal
z. B. Exploratorium San Francisco (keine Schule, sondern tolles Museum!)
z.B. Chelmsford, Massachusetts
Zum Kleingedruckten:
Lassen wir mal die rechtlichen Implikationen des Allmendebegriffs beiseite: Creative commons! Schon der Bauernkrieg hatte etwas mit Veränderungen bei der Allmende zu tun.
Ich überlasse es gerne anderen, zu unterscheiden zwischen Bibliothek und learning common(lc), abzugrenzen, ob lc ein Teil der Bibliothek oder die Bibliothek Teil des lc ist, ob lc nicht doch eher virtuell gemeint ist.
Der kreative Prof. Dr. David Loertscher, der schon mehrfach die Schulbibliothek „neu erfunden“ hat, ist einer der US-Väter dieser Idee. Prof. Dr. Ross Todd beansprucht aber auch, den Namen gefunden zu haben.
Nicht verschweigen möchte ich, dass die LAG diese Form der Schulbibliothek übrigens von Anfang an propagiert: Die Schulbibliothek ist eine pädagogische Einrichtung, lautet einer der Kernsätze von Günther Brée. Sie ist von der Schule, vom Unterricht, von den Lernprozessen her zu denken.
Das kommt in den Titeln unserer Präsentationen vor, wie:
„Die Schulbibliothek als Motor der Schulentwicklung“, „… als Zentrum für pädagogische Innovation“ oder „… als Lernzentrum“.
Das kommt in Details unserer Beratungsarbeit zum Ausdruck: Die Bibliothek braucht Raum für Einzel- und Gruppenarbeit und Platz für eine ganze Klasse (oder zwei). Der Bestand besteht aus einem durchdachten Mix „alter“ und neuer Medien. Rollenregale ermöglichen flexible Raumgestaltung. Der WebOPAC erlaubt schon mal von zu Hause im Bestand zu recherchieren. (Heute gibt es, u. a. mit den Web2.0-Tools, noch viel mehr Möglichkeiten.) Die Bibliothek sollte Laptops bereitstellen. In der Bibliothek lernt man Arbeitstechniken. (So nannten wir das, als wir den Begriff „information literacy“ noch nicht kannten.) Usw.
Dank Prof. Loertscher haben wir jetzt zumindest einen Arbeitstitel für diese Form der Schulbibliothek: learning commons. Hoffentlich lässt er ihn nicht schützen, wie das Ross Todd mit guided inquiry gemacht hat.
Lange bevor ich mein Herz an die Schulbibliotheken verloren habe, hatte ich mir in meinen Schulen einen leeerstehenden Raum geangelt, in dem ich eine Gruppentisch-Anordnung schuf, einen Kartenständer deponierte, einen halben Klassensatz Atlanten, einen Tageslichtprojektor, ein Lexikon und einen Duden, einen Klassensatz Grundgesetz, Farbkreide und einen Kassettenrekorder. Alles Dinge, die in einem gewöhnlichen Klassenraum nicht oder nur so lange vorhanden waren, bis ein Kollege sie entdeckte und usurpierte. Oder man schleppte sie, wie ein Maulesel bepackt, von Klasse zu Klasse. Das war sozusagen meine private Allmende. Die von mir eröffneten Schulbibliotheken waren später – als öffentlicher Raum – nichts anderes.
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